Die Revolte der guten Menschen

Zum Spektakel verflüchtigt: Carl-Heinz Mallets romantische Innenansichten der Hafenstraße  ■ Von Roger Behrens

Der ehemalige Lehrer Carl-Heinz Mallet – er war fünfzehn Jahre lang Schulleiter einer Sonderschule für Lernbehinderte – hat zwei Jahre lang die Hafenstraße besucht und sich mit den Bewohnern des einstigen Vorzeigeprojekts der Hausbesetzer unterhalten. Und er hat beobachtet, wie Menschen in einem vermeintlich rechtsfreien Raum wohnen, wie der Alltag derer aussieht, die nach Meinung der bürgerlichen Presse das Gespenst linksradikaler Autonomie waren, welches in den Achtzigern sogar durch Europa geisterte: Zumindest in den berühmten Bildern martialischer Straßenschlachten und Barrikaden, oder den Transparenten, die gleich am Tor zur Welt eben diese über ihre eigenen politischen Abgründe informierte. Hier war der Nabel jenes Bauches, den die autonome Linke seinerzeit sehr gerne zum Denken nutzte. Heute ist die Hafenstraße ein Wohnprojekt, und das alte Gespenst hat sich zum Spektakel verflüchtigt. So druckt die bürgerliche Presse, namentlich das Hamburger Abendblatt, nun Mallets Hafenstraßenbuch als Serie.

Die Leute von der Hafenstraße, die Mallet vorstellt, leben zwar nicht gerade nach bürgerlichen Vorstellungen, gleichwohl praktizieren sie eines der höchsten bürgerlichen Ideale: den Individualismus. Kurzum, wenn von der Revolutionsromantik vergangener Straßenschlachten die politische Idee der Revolution genommen wird, bleibt eine Romantik, die dem Bürgertum sehr vertraut ist. Zumindest bleibt sie Mallet, der verklärt, wo er aufklären möchte – oder besser, weil er aufklären möchte: Die Hafenstraße ist nicht Sand im Getriebe des Systems, sondern vielmehr das exotische Gewürz der tristen Exis-tenzsuppe, die der Kapitalismus serviert.

So ist ein Erfahrungsbericht entstanden, der Berührungsängste abbauen möchte und um Verständnis wirbt. Krumm und verstellt bleibt die Widmung „all denen, die versuchen, neben dem, was sich heute Mainstream nennt, ein eigenes Leben zu führen“ – geschrieben ist das Buch für den Mainstream, dem die Hafenstraße als Spiegel seiner Konformität vorgehalten wird. Gewiss ist dieses Buch kein politisches Buch, es sei denn im Sinne der Ästhetisierung einer Politik. Wer kritisch liest, könnte es sich also mit dem Buch ebenso einfach machen, wie das Buch es sich mit der Hafenstraße macht.

Die Leute aus der Hafenstraße sollen doch leben, wie es ihnen beliebt. Die andere Art zu leben, die Mallet beschreibt, ist als solche so uninteressant wie jeder Blick ins fremde Haus schamlos ist.

Die Idee des autonomen Lebens war Symbol, utopischer Vorgriff mit der Schranke des erst zukünftig Machbaren. „Die zahlen keinen Strom – wenn das jeder machen würde!“ – Dass die Formen, die Praxis und die Symbole der autonomen Politik vor allem für den kleinbürgerlichen Lebensentwurf einen Schock darstellten, war höchstens das Lachen einer Revolte gegen einen – in der Tat ja selten theoretisch ausdifferenzierten – Komplex von Staat, Polizei und Kapital, eine Revolte gegen alltägliche Erniedrigungen und Entrechtungen. Mallet macht daraus die Revolte der guten Menschen. Sein Blick in das Innere der Hafenstraße ähnelt einer Märcheninterpretation, tatsächlich hat Mallet bereits einige Bücher über Märchen publiziert; seine moderne Variante sucht das Banale interessant zu machen und gibt Einblicke ins Gewöhnliche, wie auch Big Brother sie gewährt.

Das eigentlich Bemerkenswerte an Mallets Buch ist nicht das Buch, sondern der Verlag, der es publiziert. Die Gründe der Edition Nautilus zur Veröffentlichung werden wohl ein Rätsel bleiben; dem linksradikalen, subversiven Bergedorfer Kleinverlag, der einige gute Autoren für ein politisches Buch über die Hafenstraße im Programm hat, sei zu wünschen, dass Mallets Hafenstraßen-Bericht wenigstens finanziell ein Erfolg wird, um so vielleicht noch ein sinnvolles Buch über dieses Kapitel linker Bewegungsgeschichte nachzureichen.

Vorschlag zur Güte: Wie wäre es mit einem Buch Eigenheim in gutbürgerlicher Gegend, geschrieben von den Leuten aus der Hafenstraße, meinethalben auch als Fortsetzungsgeschichte im Abendblatt – nicht verwunderlich wäre allerdings, wenn dasselbe Buch dabei herauskäme.

Carl-Heinz Mallet: Die Leute von der Hafenstraße. Über eine andere Art zu leben, Edition Nautilus, Hamburg 2000, 192 S., 28,00 DM