Der Musik-archäologe aus der Pampa

■ Label-Porträt Nr. 6: Bear Family Records ist Weltmarktführer bei der Wiederveröffentlichung von Schlagern und Countrymusik. Mit Besessenheit eines Sammlers produziert Labelchef Richard Weize alles, was vom Vergessen bedroht ist zwischen Doris Day, Caterina Valente und Lotte Lenya

Es sind 12.735. Ich habe sie gezählt: Bären in allen Ausführungen, aus Ton, Metall, Papier, von der Decke baumelnd, auf dem Boden lümmelnd. Und weil Bear Family Records kürzlich 25. Jubiläum feierte, kauern an allen Anrichten und Regalen Bären in Geschenkfolie mit Schleifchen. Es ist nicht zu übersehen: In der weinumrankten Labelresidenz, mitten in der Pampa 12 km nördlich von Osterholz-Schambeck, sind echte Freaks zuhause. Für den liebevoll gestalteten Geburtstags-CD-Sampler spielten die wichtigen Künstler des Hauses extra Bärensongs (“The bear missed the train“ auf die Melodie von „Bei mir bist du schön“) ein. Im dazugehörigen Booklet erklärt Hausherr Richard Weize die seltsame Vorliebe: „In einer Enzyklopädie aus dem Jahre 1898 sah ich einen Holzschnitt einer Bärenmutter mit ihrem Jungen, und es gefiel mir einfach. So beschloss ich, die Firma danach zu nennen.“ Zugegeben, es gibt prickelndere Anekdoten; aber auf das Wörtchen Enzyklopädie kommt es an, denn enzyklopädisch ist auch der Anspruch des Hauses, aber dazu später. Draußen im Hof des ehemaligen Bauernhauses steht eine kleine Bärenfamilie aus Red-Wood-Holz, fast in Lebensgröße. Geschnitzt hat sie ein Vietnamese in Amiland und gekostet hat sie schlappe 5.000 Mark, erzählt Weize. Nach 25 Jahren Unternehmerdasein ist sein Kosten-Nutzen-Denken ziemlich ausgeprägt, und bei Geschäftstelefonaten kann man schon mal erleben, wie er um jede einzelne Frei-CD schachert.

Mit 10 Millionen Mark Jahresumsatz ist Bear Family Records mit Abstand das größte Label in Bremen und umzu. Und dabei ist doch sein Arbeitsgebiet, nun ja, sagen wir mal sehr speziell. Buchstabe A: Saul Aarons, Roy Acuff, Ronnie Adair, Billy Adams, Lee Adrian ..., tja. 99 % der CD-Produktionen sind Wiederveröffentlichungen – und auf dem Gebiet Schlager und Country ist man längst Marktführer. Weltweit!

Weize ist ausgebildeter Dekorateur. 1975, 30 Jahre alt, nach einer wechselhaften Karriere als Weinvertreter („in den 60ern war das Vertreterdasein die Inkarnation von gelebter Freiheit“) stellte sich die Lenin-Frage „Was tun?“ für den Altlinken ganz privat. Da besann er sich auf alte musikalische Leidenschaften. Schon im Alter von 15 importierte er Country-Platten aus Amiland. Während andere die Beatles verehrten, investierte er in Johnny Cash und Jim Reeves. Und so handelte es sich bei den ersten Bear-Produktionen um Country, Rockabilly und die alten Rock 'n' Roll-Recken. Bald wurde klar, dass deren Fangemeinde zu klein ist, um ein Unternehmen zu tragen. Aber Weize war auf den Geschmack von Kultursicherung gekommen. Erfahren im Archivschnüffeln wendete er sich dem Schlager zu, zunächst ohne große Leidenschaft. Mittlerweile liebt er die Musik und ihre Interpreten und schwärmt: „Caterina Valente ist die einzige internationale Künstlerin, die wir Deutschen haben. Ein Superstar, so wie Elvis. In Amerika verkauft sie sich sehr gut.“ Miss Caterina Presley. Wenn man bedenkt, dass Weize ein Kind der 68er ist und als Latzhosen- und Zopfträger auch nichts zur Verheimlichung dieser Tatsache unternimmt, mutet gar manche Vorliebe eher strange an: „Vico Torriani wirkt zwar wie ein Spießer, als Musiker aber ist er grandios.“ Richtig aus vollem Herzen aufregen kann er sich über den intellektuellen Hochmut, mit welchem dem Schlager oft sein Populismus um die Ohren gehauen wird; zum Beispiel im Kontext mit Rex Guildos Selbstmord: „Da behauptet so eine Tussi vom Spiegel, der Mann hätte an seiner zunehmenden Erfolglosigkeit gelitten, die sich angeblich in Auftritten in Baumärkten und Möbelhäusern dokumentierte. Mir wurde richtig übel. Für 20.000 Mark Gage in Baumärkten aufzutreten, das ist doch alles andere als Erfolgslosigkeit.“ Zu einer abgespacten Raritätensammlung von radebrechend-deutschsprachigen Songs ausländischer Interpreten heißt es im Labelkatalog aber auch mal schalkig: „Wer diesen Song Toni Cavanaughs schadlos überstanden hat, den kann garantiert nichts mehr erschüttern.“

Von der neuen Schlagerwelle der frühen 90er profitierte Bear nicht: „Die reanimierte die Stars der 70er Jahre. Wir dagegen widmen uns den 50er und 60er Jahren, als Schlager noch mit handwerklichem Anspruch einherging: Alice Babs, Connie Francis, Freddy Quinn und viele andere, die heute kein Schwein mehr kennt. Überhaupt nicht dagegen gefällt mir Roberto Blanco, Heino und das ganze 70er-Jahre-Hopsassa. Aber das ist bei uns Prinzip: Wir arbeiten immer am Mainstream vorbei.“

Dem aktuellen Geschehen in Folk und Schlager begegnet Weize mit einer Mischung aus Interesselosigkeit und Ärger. „Tracy Chapman oder Toni Braxton müsste ich eigentlich mögen. Tue ich aber nicht. Überhaupt interessiert mich vieles, was seit den 80ern geschieht nicht mehr.“ Und Dieter Thomas Kuhn und Guildo Horn? „Da bin ich allergisch gegen, auch gegen – wie heißt dieser andere Entertainer gleich wieder, genau, Stefan Raab. Aber wenn sich die Leute verarschen lassen wollen, meinetwegen.“

Im Gegensatz zu fast allen anderen Labels bleibt Bear von den Kapriolen des Zeitgeistes absolut unberührt. Die Produktionen wenden sich mit ihrer Auflage von 1.000 Stück an einen kleinen Zirkel von Liebhabern und Sammlern aller Altersklassen, und der verändert sich nur langsam. So wuchs der Laden kontinuierlich, ohne je in eine Krise zu geraten, und beschäftigt mittlerweile ca. 20 Mitarbeiter, die hauptsächlich im Versand des Mailorderbetriebs arbeiten. „Wenn du dich nicht um Erfolg und Zeitgeist scherst, dann kann dir auch nichts passieren.“ – eine wunderschöne, wenn auch vielleicht nicht immer zutreffende Hypothese. Im Laufe der Firmengeschichte wurden ca. 300 LPs und 1.500 CDs produziert. Im laufenden Jahr werden es wohl knapp 200 Stück, viele davon in luxuriösen LP-großen Boxen mit beigelegtem Buch, die vier bis zwölf CDs umfassen. „Wir haben in Sachen Wiederveröffentlichung weltweit die Standards gesetzt, und zwar was die Tonqualität anbelangt und den Anspruch auf Vollständigkeit.“ Das wurde honoriert. Für die Friedrich-Hollaender-Box gab's den Deutschen Schallplattenpreis und für die Lotte-Lenya-Box den sehr renommierten amerikanischen ARSC Award für historische Recherche. Finanziell war Lenya ein Debakel: Nur etwa 570 Käufer fanden sich für die 11 CDs der Kurt-Weill-Gefährtin. 2.000 hättens sein müssen. Das bedeutete rund 500.000 Mark Miese. Aber um Bilanzen macht sich Weize keine Sorgen: „Keine Zeit zum Sorgen.“ Schließlich gibt es dafür einen Mann namens Hermann Knülle. Und leben können die beiden mittlerweile ganz anständig vom Geschäft.

So nostalgisch die Musikvorlieben sind, so modern ist der Einsatz von Technik. 1982 wurde auf CDs umgestiegen. 1984 verzierte man eine Ian-Tyson-CD mit einem Bildchen – die erste Picture-CD der Welt war geboren. Und mittlerweile wird einiges auf den bildfähigen DVD produziert, etwa die legendäre Folk-Gruppe Weavers, die die Ehre hatte, von Kommunistenfresser McCarthy höchstpersönlich abgeschossen zu werden.

Die Anregung für ein neues Projekt kommt oft von außen, von Fachleuten oder Freunden Weizes. Der nimmt sich dann die Plattenfirma des Interpreten vor, wühlt in deren Archiven, wobei es „den Spürsinn eines Sherock Holmes benötigt, um in den fussballfeldgroßen Räumen fündig zu werden“. Einmal wollte ein Band ums Verrecken nicht auftauchen. Da kam ihm des nachts ein Traum zu Hilfe und lenkte ihn auf die richtige Fährte. Klarer Fall von Maniakismus. Manches Firmenarchiv kennt Weize besser als jeder Angestellte. Und bei RCA, Columbia, SUN und Capitol ist er regelmäßiger Gast. Für die Rechte sind 16–22 Prozent der Umsätze fällig, wobei der Interpret nicht selten leer ausgeht. Das Mastering eines Bandes kostet nur 1.-2.000 Mark. Richtig ins Geld gehen aber die aufwendigen Bücher für die Boxen. Entsprechend der Internationalität des Absatzes sind sie in englisch verfasst oder deutsch und englisch. Die möglichst vollständigen Diskografien sind Weizes besonderer Stolz. Überhaupt hegt er eine Leidenschaft fürs Bewahren. Kürzlich erstand er die kompletten Spiegel-Ausgaben der Jahre 48-85. Die Münchner Illustrierte von 1933–45 steht auch irgendwo zwischen den Teddybären rum.

Draussen in der Einöde von Hambergen ist Weize zum fröhlichen Weltverächter geworden. Stundenlang kann er über sinkende Arbeitsmoral, sinkende Produktqualität bei TV-Geräten und überhaupt, hässliche Bucheinbände, lächerliches Preisverleihungsbrimborium mit dämlichem Politikergesabbel und über das stete Vordringen des Ignorantentums schwadronieren. Zum Glück ficht das alles ihn nicht an, sich mit alter Verve aufs neue Projekt zu stürzen: eine umfassende Dokumentation von Bob Wills, dem Vater des Westernswing. „Sag nur, das kennst du jetzt wieder nicht!“ 2001 wird es dann eine 4-CD-Box geben, die jüdisches Erbe sichert: In einer kleinen Zeitspalte 1937-39 durften jüdische Musiker auf den Labels Semer und Lukraphon veröffentlichen. Von den circa 100 Produktionen ist manches vermutlich endgültig verloren. Und Weize hat einige hübsche Anekdötchen auf Lager, etwa vom letzten Exemplar einer Platte, die ihm zugeschickt werden sollte, aber von einem heftig stempelnden Postbeamten zu Tode gebracht wurde.

Über seinem Schreibtisch schreit es albumblattig aus einem Bilderrahmen: „Unmögliches wird sofort erledigt, Wunder dauern etwas länger.“ Aber warum ist auf dem Kalender nebenan noch das Blatt vom Dezember zu sehen? Weil darauf ein Eisbär gemütlich in den Sonnenuntergang hineintrottet. Selbst die kuschelige Biedermeier-Sitzecke unterm Dach ist ausschließlich reserviert für ein Rudel von Teddys. Wundermacher haben eben keine Zeit zum Sitzen, no way. bk

www.bear-family.de . Katalog bestellbar bei Bear Family, 27727 Hambergen, Postfach 1154 oder bear§bear-family.de