„Werden die Jäger jetzt zu Gejagten?“

Auf den Waldwegen zwischen Sibirien und Deutschland vermehren sich nicht nur die Schlepperbanden, sondern auch die Wölfe: Nachdem Iwan, dem dreibeinigen Wolf, in Brandenburg Asyl gewährt wurde, erlebt der Canis Lupus eine Renaissance unter deutschen Filmemachern und Feministinnen

von HELMUT HÖGE

Zuerst die guten Nachrichten: Wolf Klinz, auch Dr. Wolf genannt, wurde gerade Geschäftsführer einer ehemaligen „Management KG“, die er als Leiter der Treuhand-Abteilung Elektrobetriebe 1994 mitgründen half, um darin unverkäufliche Ost-Betriebe zusammenzufassen und somit zu quasi-privatisieren. Das hat er nun also auch mit sich selbst gemacht. Und dann ist da noch der Vorständler „Wolf von BASF“: Er hat anscheinend dichtgehalten – beim Bischofferöder Kali-Deal. Das geht jetzt aus den geheimen Tagebuch-Aufzeichnungen des Treuhand-Vorständlers Schucht hervor: „Wie gut, dass man sich auf solche Leute wie Wolf verlassen kann.“

Nun die schlechten Nachrichten: Die „Wolf braucht Raum“-Theorie muss modifiziert werden. Sie war von einigen westdeutschen Wolfsexperten aufgestellt worden, um zu erklären, warum immer mehr Wölfe aus Russland bzw. Sibirien über die Oder-Neiße-Grenze nach Westen einsickern – zuletzt sogar ein dreibeiniger Wolf namens Iwan (taz, 19. 4. und 15. 6. 2000). Danach gibt es dort – in der Wegelosigkeit – nun mehr und mehr verlassene Dörfer bzw. solche, die nur noch von ein paar alten Leuten bewohnt werden – die Wölfe können dementsprechend immer mehr Leerraum in Anspruch nehmen. Auch ihre Beutetiere haben sich inzwischen vermehrt.

Dadurch entsteht jedoch ein zunehmender Bevölkerungsdruck unter den Wölfen selbst, der zu einer Verdrängung der sozial Schwachen und Krüppel führt, die sich nun – nach und nach – in Richtung Westen absetzen, wo es nicht nur kaum Wölfe gibt, sondern sogar riesige Wolfsschutzzonen: Brandenburg gehört z. B. dazu, dort darf der Wolf gar nicht mehr gejagt werden. Zu DDR-Zeiten gab es dagegen eine ganzjährige Wolfsjagd.

Die neudeutsche Kunst reagierte bereits – sehr feinfühlig – auf diese Wende: Derzeit wird gerade der Nachkriegsbestseller „So weit die Füße tragen“ verfilmt. Besonders jene Szene, in der die kleine Gruppe deutscher Kriegsgefangener, die 1944 aus einem sibirischen Lager ausbrach und nach Westen flüchtete, von einem Wolfsrudel im winterlichen Wald verfolgt wird, jagte Millionen Deutschen Schauer über den Rücken.

Das Buch wurde daraufhin als erste Serie für das deutsche Fernsehen verfilmt – und die Serie wiederum wurde zum ersten deutschen „Straßenfeger“. Von der Neuverfilmung – in Original-Sibirien und mit Original-Wölfen – verspricht sich der Regisseur einen Superhit.

„... vermisse ich die Diskussion über Hunde“

Die Wölfe waren immer die Hauptgegner der (frühen) Menschen – vor allem der Hirtenvölker – bis es diesen endlich gelang, sie züchterisch zu spalten: in Hunde, die ihre Herden bewachten – und Wölfe, die sie angriffen. Fortan war der Hund der gefährlichste Gegner des Wolfs. Aber gleichzeitig auch der des Menschen! Solschenizyn schreibt – aus dem Gulag heraus: „Bei den ganzen Abrüstungsgesprächen über Raketen und Atombomben vermisse ich die Diskussion über Hunde – diese, deutsche Schäferhunde zumeist, setzen nämlich den Menschen als Wachhunde mehr zu als alle Raketen und Bomben zusammen!“

Den Bolschewiken galten die Kriminellen als „Klassennahe“, während die Intellektuellen für sie „Klassenfeinde“ waren. Die Ersteren hatten traditionell einen hohen Organisationsgrad in Russland entwickelt, der sich über viele Gefängnisse und Arbeitslager erstreckte. Sie arbeiteten nicht, drangsalierten die „Politischen“ und korrumpierten die Wachmannschaften. Dem KGB gelang es erst während des Großen Vaterländischen Krieges, sie zu spalten – in autonom bleibende „Wölfe“ und kooperierende „Hunde“. Die beiden Gruppen fielen daraufhin – wo immer sie sich trafen – übereinander her: Tausende starben. Am Schluss war das Kriminellen-Problem, zumindestens in den sowjetischen Knästen, halbwegs gelöst.

Aber nicht generell: für Südkoreas Propaganda sind z. B. immer noch alle Nordkoreaner „Wölfe“. Und bereits im Zweiten Weltkrieg betrachteten nicht nur die deutschen Okkupanten alle Partisanen in den Wäldern als „Wölfe“, auch untereinander beschimpften sich die verschiedenen Partisanengruppen als blutgierige „Wölfe“ – die sowjetischen Verbände z. B. die rechtsnationalistischen ukrainischen Bandera-Banden, die von den Deutschen ausgerüstet wurden und gegen Juden vorgingen, außerdem die nationalistischen polnischen Partisanen, die ebenfalls antisemitisch, dazu antisowjetisch eingestellt waren. Den Bandera-Banden, die spätere SS-Division „Galizien“, stellt man heute Denkmäler in der Westukraine auf.

Schon schlagen diese „Wölfe“ aber auch wieder auf Partisanenart zu – indem sie z. B. „russische Läden“ demolieren. Überhaupt herrscht auf den früheren Wolfspfaden durch die großen Wälder der westlichen Sowjetunion, die seit dem Krieg gegen Napoleon immer wieder auch von Partisanen benutzt wurden, erneut reger Verkehr: Es sind diesmal Schlepperbanden, die ihre Kunden – aus China, Bangladesch und der Türkei, vor allem jedoch junge einheimische Frauen – über die Oder-Neiße-Grenze bringen.

Historisch gesehen haben wir es also auf diesen Waldwegen dort mit dem Dreierpack Wolf-Partisan-Prostituierte zu tun. Wobei sich derzeit die Schlepperbanden enorm vermehren, wie „eurocop“ vermeldet – aber daneben auch „die Wölfe auf dem Vormarsch sind“, wie die Stiftung „euronatur“ auf ihrer Webpage schreibt. Sie wirbt damit für ein „harmonisches Zusammenleben“ zwischen Menschen und Wölfen, dazu sollen die Waldlandschaften als Vorranggebiete für den Naturschutz erhalten bleiben. In ihrem „Projekt Wölfe in Europa“ wird sogar wieder von „friedlicher Koexistenz“ gesprochen. Ähnliche Öko-Ziele wie „euronatur“ verfolgen die belgische „Wolf Federation“, die britische „Wolf Society“, die deutsche „Four Paws“ und das russische „Ökologie-Zentrum Altai“.

Sie können bereits erste Erfolge vermelden: der Europarat verbot die Wolfsjagd per Hubschrauber, und Finnland führte eine Tötungsquote ein. Die Wölfe sind wirklich in Westeuropa auf dem Vormarsch. Nur Frankreich umgehen sie: wegen der Revolution! Diese hatte einst das Adelsprivileg der Jagd abgeschafft. Fortan durfte jeder alles abknallen. Wie Vogelkundler berichten, nehmen seitdem sogar die Zug- und Strichvögel ein anderes Verhalten auf französischem Territorium ein: Sie verstecken sich, fliegen verdeckt und geben keinen Mucks von sich. 2.000 Jäger erschossen vor 52 Jahren den letzten französischen Wolf, dem man hernach – ebenso wie dem letzten Wolf auf der Halbinsel Sachalin – ein Denkmal setzte.

In Osteuropa geht es derzeit eher umgekehrt darum, die Wolfsjagd zu forcieren, anstatt sie einzuschränken. Es gibt dort nun – ähnlich wie in Alaska und Kanada – staatlich geförderte Vernichtungsprogramme. In Polen werden von den geschätzten 500 Wölfen jährlich zwischen 80 und 100 erschossen. In Russland wurden – allein im Winter 94/95 – 15.425 Wölfe getötet.

Arbeitslose, die als Jäger dazuverdienen müssen

Dort gibt es zudem eine literarische Auseinandersetzung mit Wölfen – angefangen mit den Theaterstücken von Ostrowski und Liedern wie das von Wysotzki: „Die Wölfe werden gejagt“, bis zu den Erzählungen von Schuckschin und Pilnjak: „Wölfe“. Im „Theater der Tiere Durow“ gab es einmal einen alten Wolf, der 20 Jahre lang in dem Stück „Rotkäppchen“ den Wolf spielte: Das Mädchen sang, und er musste sie sich schnappen. Inspiriert vielleicht von Freuds berühmtesten Patienten – den russischen „Wolfsmenschen“ – verfasste Wiktor Pelewin jüngst eine Geschichte mit dem Titel „Werwölfe in der mittelrussischen Ebene“: In Weißrussland verwandeln sich kriminelle Banden nächtens in Wölfe, wobei sie nach alter Partisanenart die Angewohnheit beibehalten, sich Kommandeure und Kommissare sowie deren Stellvertreter zu wählen.

Der Umgang mit dem laut Sowjetenzyklopädie „großen Schädling“ Wolf differiert von Region zu Region: In Tatarstan wurden gerade die Prämien für abgeschossene Wölfe erhöht: Früher gab es für eine Wölfin mit Jungen 1.000 Rubel, jetzt 2.500 (etwa 200 Mark), für einen Wolf 250 Rubel, jetzt 500, und für einen kleinen Wolf früher 100, jetzt bis zu 300 Rubel. Die Prämienerhöhung wird mit den gestiegenen Benzin- sowie Munitionskosten begründet. Zudem gibt es immer mehr Arbeitslose, die sich als Jäger was dazuverdienen müssen – und deswegen fühlte sich das Forstministerium verpflichtet, die Jagd stärker zu stimulieren. Von den etwa 200 Wölfen rund um Kasan wurden im vergangenen Jahr 30 getötet. Im sibirischen Jakutien ging man bisher relativ unhysterisch mit den einheimischen Wölfen um, jetzt dringen jedoch immer mehr Wolfsrudel aus der Gegend um Chabarowsk und dem Amurgebiet ein, wo große Waldbrände wüten. Schon meldete eine jakutische Kolchose: die Wölfe hätten 50 ihrer Rentiere getötet. Im Gebiet Primorski, um Wladiwostok, gab es früher eine autonome Tigerpopulation, seitdem sie so gut wie ausgerottet ist, hat sich dort der Wolf verbreitet, er beherrscht angeblich schon ganze Wälder. Außerdem wird die Jagd für die Bevölkerung, der oft monatelang keine Löhne ausgezahlt werden, immer wichtiger, sodass man hier sogar extra ein Gesetz zur Vernichtung der Wölfe erlassen hat. Zudem wurden die Prämien erhöht: Für in ihrer Höhle getötete Tiere gibt es nun 250 Rubel, für einen männlichen Wolf 350. Ähnlich sieht es in Weißrussland aus, wo die Wälder ihretwegen immer gefährlicher werden und bereits Tierfarmen und Menschen überfallen wurden. Vor allem seitdem man die Wolfsprämien runtergesetzt hat. Die Wölfe verbreiten sich insbesondere in den nach dem Tschernobyl-GAU geräumten Gebieten. Wie der Oberjäger Waleri Kwakim berichtet, gab es in Weißrussland vor 20 Jahren etwa 1.000 bis 1.800 Wölfe, nunmehr sind es über 8.000. „Damals war es nicht leicht, Wölfe zu jagen, sie waren eine Herausforderung für jeden Jäger.“

In Westdeutschland brachen vor einiger Zeit sechs Wölfe aus einem Tierpark in Simmern im Hunsrück aus. Vier wurden sofort zur Strecke gebracht. Eine Tierschützer-Gruppe stellte daraufhin Strafanzeige wegen „Wolfstötung“. „Werden die Jäger jetzt zu Gejagten?“, fragte die Lokalzeitung entsetzt. Weil die Bevölkerung den Standort der Wölfe sofort der Polizei melden sollte, sprachen die Tierschützer – unter www.tierrechte.de – von einem „Aufruf zum Denunziantentum“.

Und zum Schluss die absurden Nachrichten: „Werdet wie die Wölfinnen!“, rät die Frauenforscherin Clarissa Pinkola Estes – auf der Webpage zu ihrem Buch „Wolfsfrauen“: „Die Wildnatur aller Geschöpfe ist grundsätzlich lebensfroh ... Frauen tun gut daran, sich gegen alle psychologischen und körperlichen Normen zu wehren, die sie von ihrer wilden Seele abschneiden ...“

Die Grenzen mitUrin markieren

Hoffen wir, dass die dergestalt immer wölfischer Werdenden nicht auch wieder mehr Raum beanspruchen: Wie der US-Wolfsforscher Gordon Haber anhand einer Untersuchung der Wölfe im McKinley-Nationalpark herausfand, beanspruchte ein Rudel – mit 10 Tieren – 1.300 Quadratkilometer, ein anderes – 18-köpfiges – 2.500 Quadratkilometer und ein drittes – mit 15 Mitgliedern – 1.500 Quadratkilometer. Die Grenzen werden von den Leitwölfinnen mit Urin markiert. Noch weitaus größer war einst der Aktionsradius des sowjetischen Dichters Jewtuschenko, dessen neue Biographie „Der Wolfspass“ heißt. Es ist darin vor allem von seinen in- und ausländischen Liebschaften die Rede. Auf die Frage, warum das Regime ihn nie ernstlich einengte, antwortete der Autor: „Nach Sibirien konnten sie mich ja schlecht deportieren, weil ich von dort komme – das wäre für mich keine Strafe gewesen“. Ähnlich reagierte bereits ein Rotarmist aus Omsk in Kasakewitschs WK2-Roman „Frühling an der Oder“ – als er hier die letzte Nazi-Parole „Sibirien oder Sieg“ an den Hauswänden entdeckte.

Der Slawist Schlögel meinte neulich: „Sibirien war eine deutsche Seelenlandschaft.“ Wir können seine kühne These nun aktualisieren: Der (sibirische) Wolf hat eine deutsche Seele! In Brandenburg genießt er deswegen bereits volles Asylrecht.