Solidarność – reif fürs Museum

aus WarschauGABRIELE LESSER

Zerknittert sieht Lech Wałęsa aus und vom Regen ein bisschen mitgenommen. Das Wahlplakat hängt über dem Kioskfenster vor der Danziger Werft. Heraus schaut eine freundliche alte Dame: „Hier, der Kugelschreiber, das ist ein schönes Solidarność-Andenken.“ Sie dreht sich um, lässt die Augen über die Auslage schweifen, reicht noch einen Wecker und ein T-Shirt mit dem Solidarność-Logo nach draußen. Außerdem fünf vergilbte Postkarten, auf denen das Denkmal vor dem Kiosk und dem Werfttor zu sehen ist: drei eng zusammenstehende, hoch aufragende Stahlkreuze, die an das Massaker vor der Leninwerft im Jahre 1970 erinnern. „Die Ware für den 20. Jahrestag ist noch nicht da“, zuckt sie bedauernd die Schultern.

Der Pförtner prüft den Ausweis, spuckt auf dern Boden und raunzt: „20. Jahrestag! Das feiern sie jetzt noch groß. Und dann machen sie hier dicht. Wir werden entlassen, und dann kommen so feine Pinkel her, um hier zu wohnen. Ist schon alles vorbereitet.“ Er spuckt wieder auf den Boden, nickt mit dem Kopf rüber zum Wahlplakat Wałęsas: „Schwarz ist schwarz und weiß ist weiß“ zitiert er den Slogan unter Wałęsas Bild. Er stöhnt: „Damit will er Präsident werden. Jesus, Maria! Und ich habe mal an Wałęsa geglaubt.“

Wałęsas Sprung über den Zaun

Angefangen hat alles mit einer Frikadelle. Vor 20 Jahren hatte das Politbüro der Volksrepublik Polen wieder einmal die Preise für Fleisch und Wurst angehoben. Doch diesmal waren es die Arbeiter leid. Müde, enttäuscht und verzweifelt über die sich seit Jahren verschlechternden Lebensbedingungen besetzten sie eine erste Fabrik. Die Frikadelle, die von einem Tag auf den anderen um 100 Prozent teurer wurde, war nur noch der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. In ganz Polen begann es zu gären. Überall stellten Arbeiter die Maschinen ab. Und dann, am 14. August 1980, begann der große Streik auf der Danziger Leninwerft. Ein Streik, aus dem die erste freie Gewerkschaft im damaligen Ostblock hervorging. Ein Streik, der das System zehn Jahre später zum Einsturz bringen sollte.

Im Westen verstand zunächst kaum jemand, worum es ging. Am Tor der Leninwerft, das mit Blumen und dem Bild der Schwarzen Madonna von Tschenstochau geschmückt war, knieten die Arbeiter und beteten insbrünstig. Wegen einer Frikadelle? Warum essen sie nicht Fisch, wenn es kein Fleisch gibt?

Doch die Arbeiter beteten, um die Angst zu betäuben. Zehn Jahre zuvor hatte die Miliz an derselben Stelle die streikenden Arbeiter der Leninwerft zusammengeschossen. Im Kugelhagel starben 80 Menschen, weit über hundert mussten schwer verletzt ins Krankenhaus gebracht werden.

Diesmal sollte es zu keinem Blutbad kommen. Die Arbeiter verschanzten sich in der Werft. Lech Wałęsa, der junge, aber bereits erfahrene Gewerkschafter, rief einen Okkupationsstreik aus. Vier Jahre zuvor hatte ihn die Leninwerft als „Unruhestifter“ entlassen. 1970 hatte der junge Elektriker zusehen müssen, wie seine Kollegen, die während des Streiks die Werft verlassen hatten, von der Miliz zusammengeschossen wurden. 1976 hatte Wałęsa zum ersten Mal versucht, eine von Partei und Staat unabhängige Gewerkschaft zu gründen. Nach der Entlassung musste er immer wieder den Arbeitsplatz wechseln. So wurde er an der ganzen Küste bekannt.

Am 14. August 1980 weiß Wałęsa, dass sein Platz auf der Leninwerft ist. Dass der Streik diesmal Erfolg haben muss, und dass er es sein wird, der diesen Streik anführen wird. Mit einem gewaltigen Satz springt Wałęsa über das Tor zurück in die Danziger Werft.

Vom Abkommen zum Kriegsrecht

Die Forderungen der Streikenden werden politisch. Gegen die Wiedereinstellung der entlassenen Kranführerin Anna Walentynowicz hat der Werftdirektor nichts einzuwenden, auch Wałęsa kann wieder auf der Werft anfangen – doch bei den Forderungen nach einem großen Denkmal für die Toten von 1970 und nach Lohnerhöhungen für alle muss er passen. Das kann nur Warschau entscheiden.

In Warschau verhängt die Staats- und Parteiführung eine Informationssperre. Sie lässt die Telefonleitungen von und nach Danzig stumm schalten. Die Zensur wird verschärft. Im Fernsehen tritt zunächst Ministerpräsident Edward Babiuch auf, schließlich Edward Gierek, der Chef der führenden Partei der Arbeiterklasse Polens. Während der eine beschwichtigt, droht der andere den Streikenden offen mit Gewalt. Die Intellektuellen des Landes unterstützen die Arbeiter. Das „überbetriebliche Streikkomitee“, das 304 Betriebe repräsentiert, formuliert „21 Danziger Forderungen“ – und zwingt die Partei in die Knie.

Symbolträchtig – mit einem Riesenkugelschreiber – unterzeichnet Wałęsa am 31. August 1980 das „Danziger Abkommen“ mit Vizepremier Mieczyslaw Jagielski. Zum ersten Mal in der Geschichte des Ostblocks werden freie Gewerkschaften zugelassen. In den nächsten Monaten schließen sich der Solidarność über zehn Millionen Menschen an, über 50 Prozent aller Beschäftigten in Polen.

Doch die Stimmung im Lande lädt sich immer mehr auf. Die wirtschaftliche Situation bessert sich nicht, die zugestandenen Freiheiten erscheinen als zu gering. Schließlich ist auch Wałęsa nicht mehr in der Lage, dem sich ausbreitenden Chaos Einhalt zu gebieten. In der Nacht zum 13. Dezember 1981 fahren im ganzen Land Panzer auf, alle führenden Gewerkschaftsmitglieder werden verhaftet, die Telefone werden abgestellt, im Fernsehen läuft im Stundentakt die immer gleiche Meldung: General Jaruzelski verkündet das Kriegsrecht: „Bürgerinnen und Bürger der Volksrepublik Polen! Unser Vaterland befindet sich am Rande des Abgrunds. Die Strukturen des Staates beginnen sich aufzulösen . . .“

Die Gewerkschaft geht als Freiheitsbewegung in den Untergrund. 1983 erhält Wałęsa den Friedensnobelpreis, doch aus Angst, ausgebürgert zu werden, stellt er gar keinen Antrag auf einen Reisepass nach Stockholm. Die erzwungene Ruhe löst die Probleme nicht, 1988 – das Kriegsrecht ist längst aufgehoben – ist die Partei mit ihrem Latein am Ende. Sie ruft Wałęsa zu Hilfe. Er soll die im ganzen Land streikenden Arbeiter beruhigen. Wałęsa fordert freie Wahlen. Tatsächlich schließen Opposition und Regierung am „Runden Tisch“ einen Kompromiss. Aus den für 1989 ausgeschriebenen, noch halbdemokratischen Wahlen geht Solidarność als Siegerin hervor. Ein Jahr später, im Dezember 1990, gewinnt Lech Wałęsa die ersten demokratischen Präsidentschaftswahlen Polens.

Statt der Werft: Luxuswohnungen

Heute, zehn Jahre nach dem Runden Tisch und 20 Jahre nach den Streiks von Danzig, ist aus Polen eine stabile Demokratie mit einer prosperierenden Martwirtschaft geworden. Seit 1998 gehört das Land der Nato an, und bereits 2003 will es auch der EU beitreten.

Nur auf der Danziger Werft, wie die frühere Leninwerft heute heißt, ist es still geworden. Von den ehedem 20.000 Arbeitern sind nur noch 3.000 in Lohn und Brot. Das Werftgelände direkt hinter dem Bahnhof wirkt wie ausgestorben. Gearbeitet wird nur noch am anderen Ufer der Mottlau. Vor zwei Jahren wurde die Werft verkauft – an die benachbarte Werft in Gdingen und an ein Firmenkonsortium in Warschau, das Luxus-Apartments für die Reichen in der alten Hafenstadt bauen will.

„Noch wird das Gelände hier industriell genutzt“, erläutert Janusz Lipinski, der die Investitionen auf der Werft koordiniert. „In Zukunft aber wird es hier Boulevards geben zum Flanieren und Einkaufen, Wohnungen wie an den Docks von Rotterdam und London. Na ja, das Denkmal bleibt natürlich, das Tor auch, und Solidarność bekommt ein Museum.“