Im Hochland der Reaktionäre

Der Kandidat der Opposition tingelt über die Dörfer, die PRI setzt auf altbewährte Wahlkampfmethoden, die Rebellen gründen Schulen

aus Chiapas ANNE HUFFSCHMID

Bunte Bänder baumeln vom Hut des kleinen Mannes, der zwischen lauter groß gewachsenen, schnurrbärtigen Mestizen auf der Bühne steht. Aus seinem lebhaften Redeschwall sind Unkundigen, und das dürften die meisten auf diesem Dorfplatz sein, nur vereinzelte spanische Brocken verständlich: „Marginalisierung“, „verdammte PRI“ und der Name des Kandidaten, Pablo Salazar. Der Rest ist in der Sprache der Indigenas, der Tzotzil. Alle lachen, am Ende auch der Redner selbst. Es folgt heftiges Händeschütteln mit dem Stargast, einem stämmigem Mann in Jeans, der nun ans Mikrofon tritt: „Mexiko hat schon gewonnen“, ruft Salazar mit dröhnender Stimme, „jetzt kämpfen wir darum, dass auch Chiapas gewinnt.“

Es herrscht Wahlkampf in Chiapas, seit je Hochburg der Revolutionär-Institutionellen Partei (PRI). Nein, versichert der Sprecher Salazars, der Auftritt des Tzotzil-Führers sei keine folkloristische Einlage gewesen. Vielmehr ein Beleg dafür, wie breit das Bündnis derjenigen ist, die nun auch im Südosten – bei den Gouverneurswahlen am 20. August – mit „dem Stimmzettel als Waffe“ das alte Regime vom Sockel stürzen wollen.

Wenige Stunden zuvor stand el candidato mit einer Blütenkette um den Hals noch auf dem Basketballfeld von El Bosque, einer ärmlichen Siedlung im Norden des chiapanekischen Hochlandes. Eindringlich forderte er die Anwesenden auf, den Bestechungs- und Einschüchterungsversuchen zu widerstehen: „Den Wahlausweis hergeben heißt die Würde verlieren.“ Applaus gab es hier nicht. Die überwiegend indigenen Gesichter unbewegt, viele skeptisch. Während die Fahrer schon die Klappbühne wieder abbauten, stand noch immer eine lange Menschenschlange vor dem Kandidaten. In den Händen hielt jeder einen kleinen Stoß Papiere – darin Forderungen nach Land, Wasser oder Krediten, die der potenzielle Gouverneur unterschreiben soll.

Bochil, eine ungewöhnlich propere Gemeinde im Hochland, ist die vorerst letzte Station der mehrtägigen Tingeltour Salazars durch die Berge. Hier geht es schon vertrauter zu, schließlich ist Pablo Salazar im Nachbardorf geboren. Die dörfliche Blaskapelle spielt zur Begrüßung einen Tusch, mit Marschmusik geht es zügig zum Dorfplatz, begleitet von Böllerschüssen und „Pablo!“-Rufen. Salazar gibt sich versöhnlich: „Unser Kampf geht nicht darum, dass es weniger Reiche gibt, sondern darum, dass es weniger Arme geben möge.“ Als er schließlich von der Bühne steigt, umringen ihn begeisterte Anhänger. Fähnchen werden geschwenkt, Kinder winken, zwei alte Frauen küssen ihm die Hand. Fast wie in alten Zeiten. Fast.

Etwas ist anders geworden. „Es ist, als ob du dein Leben lang an Gott geglaubt hast“, sagt der Hotelbesitzer Tuxtla Gutierrez in Mexiko-Stadt, „und plötzlich sagen sie dir, dass es den gar nicht geben soll.“ Doch nicht nur die Komplizen und Nutznießer des Regimes, auch die Armen bekommen es mit der Angst zu tun. „Was passiert, wenn es jetzt keine Präsidenten von der PRI mehr gibt, mit unseren Sozialzuschüssen?“, fragt ein Händler auf dem Markt von San Cristóbal besorgt. Dass sie unabhängig von der PRI einen Anspruch auf staatliche Sozialhilfe haben könnten, ist vielen unvorstellbar. Zwar traut Gonzalo Ituarte, Generalvikar der Diözese von San Cristóbal und engster Mitarbeiter des Befreiungsbischofs Ruíz, dem neuen Präsidenten durchaus zu, die „Low Intensity“-Demokratie in Chiapas überwinden zu wollen. Aber Mexiko-Stadt ist weit entfernt, der Gouverneurspalast in Tuxtla liegt viel näher. So ist der 20. August für die chiapanekische Demokratie wohl das wichtigere Datum. Wie viele sieht auch Ituarte die Gefahr, dass die reaktionären Kräfte der PRI nun ausgerechnet den gepeinigten Südosten zur letzten Zuflucht deklarieren. Während am 2. Juli der Rest des Landes einen blitzsauberen Urnengang feierte, wurde hier wieder tief in die altbewährte Trickkiste des Wahlbetrugs gegriffen. Die Institutionalisierten Revolutionäre eroberten in Chiapas 11 von 12 Wahlbezirken, auch ihr Präsidentschaftskandidat Labastida gewann hier – zumindest rechnerisch.

Zwar sprechen die Umfragen für Salazar, doch der Wahlausgang ist schwer einzuschätzen. Schon bei den „Jahrhundertwahlen“ vom 2. Juli sind 52 Prozent der Chiapanecos erst gar nicht zur Urne geschritten.

Kein Interesse an den Wahlen

Auf der Fahrt ins Hochland: nebelverhangene Hügel, verwitterte Bretterbuden, barfüßige Indio-Kinder. Am Rand der Fahrbahn schlurft, auf einen Stock gestützt, ein altes Mütterchen. Verwaschene Tzotzil-Bluse, um die Stirn ein Tragriemen, daran baumelt ein Bündel Brennholz auf dem mageren Rücken. Hier und da ein verblichenes Wahlplakat an einem der Strommasten. Wenig später die erste Militärkontrolle, eine der über 80, die in der Region stationiert sein sollen. Aussteigen, wohin des Wegs?, Papiere vorzeigen, kleiner Plausch. Routine. Ein junger Uniformierter will Fotos von den Besuchern machen. Was denn mit den über die Jahre gesammelten Fotos passiere? „Die werden alle eingeschickt“, grinst ein anderer, „und dann wird die Miss Acteal gewählt.“ Das Flüchtlingslager Acteal war Ende 1997 zu trauriger Berühmtheit gelangt, als schwer bewaffnete Paramilitärs 45 Frauen, Kinder und Männer massakrierten.

Das einstige Lager hat sich zu einem Dorf ausgewachsen. Wenige Meter neben dem hölzernen Portal ragt die „Säule der Schande“ in den Himmel, leidende Geschöpfe, in Bronze gegossen, von einem belgischen Künstler gestiftet. Massakerkunst – ein seltsames Genre. Struppige Jungen spielen Volleyball, es gibt inzwischen einen Wasserhahn, sogar Strom. Auf dem handgemalten Schild an dem Gemeindehaus stehen die „Bürozeiten“. Im Innern der alten Kapelle, einem Holzverschlag, in dem die Flüchtlinge bei der Attacke vergeblich Schutz gesucht hatten, sind noch immer die Einschusslöcher zu sehen. „Snatl Tajimol“ ist auf der Hütte gegenüber der Kapelle zu lesen, „das Haus der Spielzeuge“. Überall liegen Trommeln und Tamburine, Marionetten und Springseile zwischen den Holzstühlchen und bekritzelten Bänken. Hier wird „gespielt und unterrichtet“, erzählt Manuel, ein junger Mann, der vom Dorf zum Erzieher gewählt worden ist, in seinem sanft gebrochenen Spanisch. Dabei sollen die Kinder vor allem etwas über „unsere eigene Kultur“ erfahren. „Als ich klein war“, sagt Manuel, „war ich auf einer Schule der Regierung.“ Die Lehrer dort seien „oft betrunken“ gewesen, Tzotzil ist gar nicht unterrichtet worden, es gab nur Hausaufgaben und Strafen. „Wir werden den Kinder alles auf gute Weise beibringen“, sagt der 21-Jährige. Alle Angebote der Regierung, staatlich anerkannte Lehrer zu schicken, hat der Gemeinderat bislang abgelehnt. Die Aufstellung einer Wahlurne wurde, nach längerer Beratung, hingegen zugelassen. Alle haben gewählt, wenn auch auf ihre Weise: Die Dorfversammlung beschloss gemeinschaftlich, wo das Kreuzchen zu machen sei – am 2. Juli bei der Linken, am 20. August bei Salazar.

Eine Urne in Oventic aufzustellen, das wäre wohl keinem Wahlfunktionär eingefallen. Die kleine Siedlung fungiert als eines der „Kulturzentren“ der Zapatistenguerilla EZLN. Hier wurde vor vier Jahren das legendäre „Intergalaktische Treffen“ mit ein paar tausend BesucherInnen aus über 40 Ländern eröffnet. Heute wirkt das rebellische Lager, das sich aus dem grünen Nichts erhebt, wie ausgestorben. Der ganze Stolz der Siedlung ist die Escuela Secundaria Rebelde Autónoma Zapatista. Nach einem Probelauf soll die Schule für die 170 Schüler aus den umliegenden Dörfern, für die eine Secundaria bisher ein unerreichbarer Luxus war, im Herbst losgehen. Gelehrt werden etwa Humanismus („über die ganze Welt“) und „Sprache und Kommunikation“. Gemeint ist hiermit, wie der Lehrer Luis erklärt, vor allem der Unterricht in indigenen Sprachen und Kulturen. Zuschüsse für Hefte, Bleistifte und das Schulfrühstück können sie eigentlich immer gebrauchen, „aber nicht von der Regierung“, sagt Luis energisch. Dass die PRI in der fernen Hauptstadt abgewählt wurde, kümmert ihn wenig. „Wir kennen ja die neue Regierung nicht.“ Mehr sagt er nicht.

Rechte bis heute nicht umgesetzt

Auch in San Andres Larrainzar interessiert man sich nur mäßig für Gouverneure und Regierungen. Hier hatten sich einst die Unterhändler von Regierung und EZLN-Vertretern getroffen, bis im Februar 1996 die ersten Teilabkommen über indigene Autonomierechte unterschrieben wurden. Die Umsetzung scheiterte bis heute am Veto der PRI-Regierung. Zwar hat der künftige Präsident versprochen, als allererste Amtshandlung die entsprechende Gesetzesinitiative, von der EZLN längst abgesegnet, endlich umzusetzen. Doch Vicente Fox hat so manches versprochen – etwa das so genannte Chiapas-Problem „in 15 Minuten“ zu lösen. Auch ohne Abkommen wird die verschlafene Kleinstadt mehrheitlich autonom regiert, von den 59 Ortschaften der Gemeinde sind 38 fest in zapatistischer Hand. Das rot gestrichene Rathaus musste die PRI schon vor Jahren räumen. In dessen Amtsstube sitzt Marcos, der Gemeindevorsteher, würdevoll hinter seinem Schreibtisch und schaut sein Gegenüber durchdringend an. „Wir haben immer noch dieselben Probleme.“ Die Paramilitärs, die willkürlichen Festnahmen, die vielen Soldaten. Ob nicht Hoffnung auf Besserung besteht? Er schüttelt den Kopf. Es gibt also nicht viel Vertrauen? No, sagt er, no hay. Nicht mal mit einem neuen Gouverneur? Das Kopfschütteln wird unwirsch.

Auf dem Rückweg taucht am Straßenrand wieder die Greisin in ihrer verschlissenen Tzotzil-Tracht auf. Tief gebeugt, schleppt sie sich und ihr Bündel den staubigen Weg entlang. Diesmal bergauf.