Grenzen des Bekennermuts

Evangelische und katholische Kirchen haben nach 1945 etliche Schuldbekenntnisse abgegeben. Nach der Diskussion um die Entschädigung für Zwangsarbeiter wollen nun die beiden Amtskirchen ihre auch ideologische Verstrickung in das NS-System untersuchen – endlich

von URSULA TRÜPER

Berlin 1945, die letzten Kriegswochen. Tägliche Fliegerangriffe. Die arbeitsfähigen Männer sind an der Front. Die Toten müssen begraben werden. Zwangsarbeiter, von evangelischen und katholischen Gemeinden angefordert, verrichten diese Arbeit.

Zwangsarbeiter und Kirchen – seit kurzem ist dies kein Tabuthema mehr. Aber beschäftigte man sie womöglich nur, „um sie vor einem schlimmeren Los zu bewahren“, wie katholische Kirchensprecher heute glauben machen wollen?

Derlei Mildtätigkeit mag es auch gegeben heben. Doch die historischen Tatsachen belegen eher, dass die Kirchen Zwangsarbeiter als das beschäftigt haben, wofür sie aus ihren Heimatländern nach Deutschland verschleppt worden waren: als billige Arbeitskräfte. Beispielsweise im „Lager für ausländische Friedhofsarbeiter der Ev. Jerusalems- und Neuen Kirchengemeinde Berlin“.

Die Gemeinden, die sich der dort kasernierten „Ostarbeiter“ bedienten, beklagten sich wiederholt über die „Ernährung der Ostarbeiter und ihre vielfach sich mindernde Arbeitsleistung“. Noch kurz vor Kriegsende schrieb der „Lagerführer“ an das Arbeitsamt Berlin-Südwest, fünf der Ostarbeiter seien „infolge ihres körperlichen Zustandes für die zu verrichtenden Arbeiten auf den Friedhöfen, auch für leichtere, nicht mehr verwendbar, sodass dieselben von den Arbeitsstellen sofort zurückgewiesen werden. Wir bitten daher um Zuweisung der genannten an eine entsprechende Sammelstelle. Um möglichst baldige Erledigung der Angelegenheit wird gebeten, da wir die Lagerplätze für andere Arbeiter notwendig brauchen. Heil Hitler!“ Von den fünf genannten Arbeitern litt einer an „allgemeiner Körperschwäche“, ein anderer an „Herzerweiterung“, jeder der drei weiteren wies mehrere Brüche auf.

„Zuweisung an eine Sammelstelle“, das konnte bei der Lebensmittelknappheit in Berlin durchaus bedeuten, dass man die arbeitsunfähigen Zwangsarbieter einfach verhungern ließ. Und warum hatten einige von ihnen mehrere Knochenbrüche? Waren sie misshandelt worden? Oder waren die Verletzungen die Folge eines Bombentreffers? So genannte Ostarbeiter durften keine Luftschutzkeller aufsuchen.

Am 26. August 1945, ein Vierteljahr nach Kriegsende, resümiert der kirchliche Finanzbevollmächtigte ohne Reue, ohne die Zwangsarbeiter wäre es unmöglich gewesen, „das Bestattungsgeschäft auch nur annähernd durchzuführen“. Bei seiner Schlussabrechnung ergab sich ein Plus von 4.322,40 RM aus Lohnkosten und 3.288,85 RM „Entschädigung für Fliegerschäden“, die den Arbeitern zustehen. Offensichtlich hatten diese aber die Auszahlung der Gelder nicht abgewartet, sondern waren so bald wie möglich nach Hause zurückgekehrt. „Dieser Betrag ist asserviert worden“, vermerkt der Finanzbeauftragte ungerührt, „und steht nach Ablauf von zwei Jahren zur Verfügung. Gegenwärtig ist er eingefroren.“

Die Herzlosigkeit, die in diesem Schreiben jede Formulierung durchdringt, ist nur zu verstehen, wenn man sich die bürgerliche (auch christliche) Mentalität jener Zeit vor Augen hält. Bis 1919 war die Kirche Kaiserkirche, sie war Teil des Staates. In der Weimarer Republik war sie plötzlich ungeschützt der Konkurrenz mit anderen Wertesystemen ausgesetzt. Parteiengezänk, Arbeitskämpfe, Frauenwahlrecht, Sittenverfall, Asphaltliteratur und Jazzmusik . . . Beide Konfessionen reagierten auf die aufkommende Moderne verschreckt. Die Mehrheit der evangelischen Pfarrer wählte deutschnational.

„Man kann sich das bipolare Denken, das damals geherrscht hat, heute nicht mehr vorstellen“, sagt der Zeitzeuge Wolf-Dieter Zimmermann, der damals als junger Pfarrer in Berlin tätig war. „Das war ganz unreflektiert: Freund oder Feind. Und der Feind musste vernichtet werden.“ Für kirchliche Kreise, protestantische wie römische, hatte der Feind zwei Namen: „Atheismus“ und „Bolschewismus“. Dagegen erschien der Nationalsozialismus als kleineres Übel.

Der evangelische Landesbischof von Württemberg, Theophil Wurm, versprach sich wie viele seiner Glaubensbrüder einiges von Hitlers Machtantritt – vor allem die gleiche gesellschaftliche Stellung wie unter dem Kaiser, ohne störenden Einfluss nichtreligiöser Kräfte. In seinen Lebenserinnerungen schreibt das spätere Mitglied der Bekennenden Kirche: „Die Nationalsozialisten hatten bisher die kirchenfeindliche Agitation des marxistischen Freidenkertums entschieden bekämpft, so dass wirklich Grund vorhanden war zu der Hoffnung, es werde nun anders werden.“

Während sich auf dem rechten Flügel des deutschen Protestantismus die „Glaubensbewegung Deutsche Christen“ formierte, die die Politik der Nazis rückhaltlos unterstützte, bildete sich bald nach 1933 eine Gegenbewegung, die „Bekennende Kirche“. Von einer einheitlichen Gruppierung könne man jedoch nicht sprechen, so Wolf-Dieter Zimmermann. „Viele Pfarrer der Bekennenden Kirche waren muntere Nationalisten, im Krieg hoch dekoriert. Andere waren bei den Religiösen Sozialisten. Das war ein ganz heterogener Haufen.“ Es gab sogar einige Pfarrer, die gleichzeitig in der Bekennenden Kirche und der NSDAP waren.

Als die Deutschen Christen innerhalb der Kirche einen „Arierparagraphen“ einführen wollten, gelang es der Bekennenden Kirche, dies zu verhindern. Freilich legten einige ihrer Mitglieder Wert auf die Feststellung, die „Arierbestimmung“ dürfe nur innerhalb der Kirche abgelehnt werden. Diese zögerliche Haltung, sobald es nicht um rein kirchliche Fragen ging, zog sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der Bekennenden Kirche.

Sie ist – neben dem politischen Konservatismus weiter protestantischer Kreise – in der Luther’schen Zweireichelehre begründet. Danach darf sich die Kirche mit ihrem Handeln und Reden nur auf das „Reich des Geistes“ beziehen, während für das „weltliche Reich“ allein die Obrigkeit die Verantwortung trägt. Jeder Widerstand gegen die Regierung ist also ein Aufruhr gegen die von Gott gesetzte Ordnung.

Als beispielsweise der spätere Pfarrer Anselm Tietsch 1939 als junger Vikar zum Militär eingezogen wurde, war es für ihn selbstverständlich, dem Folge zu leisten. „Dass man den Kriegsdienst verweigern müsste, war mir noch nicht aufgegangen; auch nicht uns Pfarrern von der Bekennenden Kirche. Keiner von uns wollte den Krieg. Dass Hitler ihn vom Zaun gebrochen und seit langem vorbereitet hatte, war uns klar. Aber mussten wir nicht die Heimat, Frauen und Kinder verteidigen?“

Gerade für ältere Pfarrer war es unerträglich, in Opposition nicht nur zum Staat, sondern auch zur Amtskirche zu stehen. Nichts in ihrer Erziehung hatte sie auf eine solche Rolle vorbereitet. Manche Halbherzigkeit erklärt sich so. Dass die Evangelische Kirchenleitung mit dem Deutsch-Christlichen Reichsbischof Ludwig Müller an der Spitze gegen keine Unmenschlichkeit der Nazis protestierte, verwundert nicht.

Aber auch die offiziellen Gremien der katholischen Kirche und der Bekennenden Kirche äußerten sich selten, und wenn, dann meist verklausuliert zur Verfolgung und Ermordung von Regimegegnern, Juden, Behinderten, Homosexuellen, Sinti und Roma. Im November 1938 verurteilte beispielsweise der Pfarrer Julius von Jan in einer Predigt ausdrücklich die Reichspogromnacht. Dies trug ihm eine längere Gefängnishaft ein.

Seine Kirchenleitung stellte sich nicht etwa hinter ihn, sondern erklärte, jeder Pfarrer möge in Zukunft darauf achten, dass seine Predigt wirklich „eine Darbietung des eigentlichen Evangeliums“ sei „und nicht eine Kritik an allerlei Vorkommnissen und Zuständen zum Ziel habe“. Auch als Kardinal-Erzbischof Michael Faulhaber eine Protesterklärung der deutschen Bischöfe gegen die Ermordung der Juden forderte, verhinderte dies der Vorsitzende der Bischofskonferenz Kardinal Adolf Bertram. Begründung: Nun, da die Kirche geringere Einflussmöglichkeiten habe, müsse sie diese „zunächst auf andere, kirchlich wichtigere und weittragendere Belange konzentrieren“.

Als Paul Gerhard Braune, Leiter der Bodelschwinghschen Anstalten in Lobetal, gegen die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ protestierte, was ihm drei Monate „Schutzhaft“ eintrug, distanzierten sich andere Mitglieder der Bekennenden Kirche von diesem Schritt. Ein halbes Jahr später gestand der Geistliche Vertrauensrat dem Staat das Recht zur „Euthanasie“ stillschweigend zu mit der Erklärung, „dass die staatliche Gesetzgebung vom Staate selbst und seinen verantwortlichen Leitern vor Gott und dem eigenen Gewissen verantwortet werden muss“.

Erst im Oktober 1943 wurde eine Erklärung gegen den Mord an Juden und an Geisteskranken verabschiedet. Aber da war es für ein wirksames Eingreifen bereits viel zu spät. Auch in der katholischen Kirche durchbrachen nur Einzelne das Schweigen, die Mehrheit der Bischöfe konnte sich nicht zu einem öffentlichen Protest gegen Hitlers „Euthanasieprogramm“ entschließen.

Schockiert konstatierte William Temple, Oberhaupt der anglikanischen Staatskirche Großbritanniens, die „Grenzen, die dem Bekennermut christlicher Deutscher gesetzt scheinen“. Schuldbekenntnisse haben beide Kirchen nach 1945 en gros abgegeben. Jetzt geht es um Härteres, um Geld nämlich. Auch der katholische Klerus wird nicht umhinkönnen, seine Opfer wenigstens nachträglich zu entlohnen.

URSULA TRÜPER, 50, lebt und arbeitet als Historikerin in Berlin