SOS für Seemannsheime

Überall wo es Seehäfen gibt, finden sich auch Herbergen für Matrosen aus allen Ländern. Es sind mehr als Notunterkünfte beim Warten auf den nächsten Job. Für viele Seemänner sind sie auch ein lebenslanges Zuhause

von PETER SCHANZ

Der Mensch braucht ein Dach über dem Kopf, einen Tisch, Bett und Herd. Dazu möglichst einen Gefährten. Und Arbeit.

Ein Seemann braucht das alles auch. Aber es liegt komplizierter: Dach, Bett, Tisch hat er, wenn er Arbeit hat, auf dem Schiff, gar einen Koch. Wenn er keine Arbeit hat, wenn er im Urlaub ist oder arbeitslos, jedenfalls ohne Schiff, dann geht er nach Hause. Falls der Seemann aber kein Zuhause hat, weil das auf dem Schiff war, dann geht er ins Heim. Ins Seemannsheim. Das Seemannsheim ist des heimatlosen Seemanns Zuhause zwischen zwei Schiffen.

Brake ist eine kleine Stadt an der Unterweser. Zwischen Bremen und Bremerhaven liegt sie am Westufer, ist Zentrum des rinderreichen niedersächsischen Landkreises Wesermarsch. Brake bietet Ruhe, idyllische Winkel und markige Aussichten auf knapp zwei Kilometer Pieranlagen am Strom. Seeschiffe können bis vor die Futtermittel- und Getreidesilos fahren oder direkt an der Fettraffinerie festmachen. Und fünf Minuten hinterm Deich steht dann das Seemannsheim.

Hans-Hermann Koch ist Diakon und in Brake das, was man einen bunten Hund nennt, denn er leitet dieses Heim seit dreißig Jahren. Mit Koch durchs Städtchen zu schreiten, kommt einem Spießrutenlauf der Sympathie gleich. In 22 Vereinen ist er Mitglied gewesen für sein Seemannsheim und hat durch effektive Beziehungspflege manche Renovierung ermöglicht.

Das Fünfzigerjahre-Haus, an dessen gediegener Inneneinrichtung man alle großen Sanierungswellen ablesen kann, ist blitzeblank geputzt, und so wie es riecht, muffig, doch desinfiziert, erinnert es an Schullandheim und Jugendherberge. Bis die ersten Menschen ins Bild treten: Das sind friedliche ältere Herren. Von Herbergsvater Koch wie Schuljungen mit vielen Schildern zu großer Reinlichkeit erzogen. Die krümeln nicht, die trennen Müll und verschütten kein Bier.

Das Heim steht in einem schönen Garten am Ende der Brommystraße. Nach dem großen Rudolf Brommy, dem ersten Admiral der ersten deutschen Flotte, die – in Brake! – 1849 eingerichtet und vertäut worden war, ist hier vieles benannt. Die Straße, eine Brücke, ein Gedenkstein. Das „Tanzlokal zum Admiral Brommy“ steht jedoch sehr vernagelt da, welk, Putz blättert großflächig. Auch die Brommykaserne der Bundeswehr ist mittlerweile geschlossen. Und schon abgerissen! Dadurch könnte nun der Hafen erweitert werden. Das wäre doch hilfreich und gut, wenn es ein wenig boomte in Brake.

Hunderttausend Übernachtungen habe er in seinen dreißig Jahren Dienstzeit gehabt, rechnet Verwalter Koch stolz vor. Über zehntausend Übernachtungen in einem Jahr! Nanu? Bei dreißig Jahren? Wie furchtbar wenig müssen es also jetzt sein!

Na ja, sagt Statistiker Koch, da wären zehn Seefahrer aus Portugal und von den Kapverdischen Inseln. Und fünf Deutsche. Also die würden quasi fest hier wohnen. Und dann eben alle, die so vorbeikommen. An einem meiner drei Abende, die ich wohne im Heim, sitzen auch tatsächlich zwei junge Russen in der Stube, trinken je zwei Beck’s-Biere und gehen wieder auf ihr Schiff zurück.

Vier Schiffe liegen an der Pier zum Löschen und Laden – das ist nicht wenig: die „Theotokos“ aus Limassol (Zypern), die vorher „Chieftain Bulker“ hieß und die liberianische Flagge trug, wie man unter der auch nicht mehr frischen Farbe noch erkennen kann. Daneben die „Freya“ aus Madeira, die zuvor aus Leer kam und einen eben noch lesbaren Safety-first-Schriftzug auf dem Brückenhaus zeigt. Daneben die „Phoenix M.“ aus Limassol, die frühere „Georgis A.“ aus Piräus, Ton in Ton in warmen Rostfarben gehalten, bis auf das funkelnagelneue knallorange Rettungsboot. Daneben die „Nord Transporter“ aus Gävle (Schweden).

Aus Brake weit und breit kein Schiff, kein Pott, kein Dampfer. Vor dreißig Jahren hätten noch knapp hundert Schiffe ihren Heimathafen in Brake gehabt, sagt Lokalhistoriker Koch, heute seien es gerade man noch fünf.

Abends hütet João von den Kapverden die Pforte im Heim und verwaltet Kühlschrank und Telefon. Das macht er jeden Abend. Dafür lässt Koch ihn wohnen. João gehört seit 25 Jahren nach Brake. Von hier aus fuhr er zur See. Als er zu alt und zu krank wurde, blieb er mit all seiner Hoffnung aufs nächste Schiff hier hängen. Er ist nicht allein: Im Keller, besser: im Souterrain, da leben die Männer von den Kapverden. Sie kochen wohlriechende Speisen, hören traurige Lieder und gucken portugiesisches Fernsehen über die Satellitenanlage, die der Seelsorger Koch für seine Matrosen zusammengebettelt hat.

Helmut wohnt im ersten Stock. Helmut ist Maschinist. Nein, er ist Maschinist gewesen, korrigiert er sich, er fährt nicht mehr. Ja, er hat sich gut gehalten, denn er hat nicht alles versoffen und verhurt, sagt Helmut ungefragt. Doch, er hat eine Wohnung. Er hätte eigentlich noch eine Wohnung, korrigiert er sich, aber er hat böse Schwestern. Die haben ihn betrogen. Und jetzt lebt er im Seemannsheim. Das passiert dem Mann auf dem Meer: dass zu Hause, während seiner Abwesenheit, die Menschen anders werden. Manchmal nur fremd, manchmal auch noch böse.

Der Seemann hat gewöhnlich seinen Horizont woanders als der Landmann. Die Seefahrer haben andere Probleme als die Nachbarn zu Hause. Wer da draußen schon einmal – oder immer wieder – im Sturm seinem Ende ins Aug’ geschaut hat, der versteht beim besten Willen keinen Streit um die Heckenhöhe in der Reihenhauszeile. Dann geht er lieber wieder fahren. Zur See. Solange er kann, solange man ihn lässt.

Koch sieht sich als Himmelslotse, als Sozialarbeiter, als Missionsleiter und Hotelier, als Krankenpfleger und Küchenchef, als Manager und Rausschmeißer. Ein wenig kokett ist er schon, der Herr Diakon, betont seine Frechheit ein bisschen zu häufig. Die Kirche habe sich immer schwer getan mit der Seemannsmission, von Anfang an, seit Einrichtung der ersten Häuser in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Nöte des zur See fahrenden Volkes seien von der Amtskirche nie richtig verstanden worden, man habe sich stets hinter Regularien verschanzt.

Natürlich kriegt Koch Ärger, wenn er wieder einen dieser Heiden kirchlich beerdigt, die auf dem Sterbebett plötzlich den Segen erflehen als Begleitung zum In-die-Grube-Fahren. Dann sagt der Bestatter Koch: In Ordnung. Seit wann bist du aus der Kirche raus? Gut, da hast du etwa dreitausend Mark an Kirchensteuer gespart. Du gibst tausend Mark als Spende für mein Seemannsheim – und das Ding läuft. Na, das kann er natürlich nicht machen, der Hans-Hermann Koch. Aber so ist er eben. Gott sei Dank.

Und er packt seine alten Seemannsheimkinder in den VW-Bus, den die ITF, die weltweit auch für Seeleute operierende International Transport-Workers’ Federation, bezahlt hat, und dann fährt er sie durch die schöne Gegend, zeigt Brake, die Wesermarsch, die Insel Harriersand, das Schifffahrtsmuseum. Dort gibt es neben Brommys Wohnzimmer auch Reisemitbringsel von Fahrensleuten aus alter Zeit: ein Einmachglas mit Meerestieren aus der Karibik, ein getrockneter Kugelfisch, ein Korb aus Gürteltierhaut, Muscheln, Korallen. Und Buddelschiffe aller Arten und Größen. Eines gar ist statt in eine Flasche in eine Glühbirne gezaubert: mit einer Ansicht von Hamburg als Hintergrund.

Mitten in Hamburg steht der Michel. Hinter dem Michel liegt das Seemannsheim. Brake war Idyll – hier ist Babel. Hier ist Tempo und Lärm. Hier gilt Welthandel und Vorkasse. Hier ist rund um die Uhr die Pforte besetzt. Hier ist nichts schön – aber alles sehr lebendig.

Kurt Robert Drobnik leitet seit kaum zwei Jahren das Seemannsheim am Krayenkamp. Er ist Pastor und hat obendrein eine kaufmännische Ausbildung. Die braucht er, denn er will das Haus retten. Er war Militärpfarrer bei der Marine – das übt kolossal: Ihm ist nichts Seemännisches fremd. Doch was ihm an Land nicht vertraut werden will, das sind die Eitelkeiten von Vorständen und Funktionsfurzern, wie es sie offensichtlich in fast jeder Institution gibt. Auch die Hamburger Seemannsheime werden als Vereine geführt.

Weil es der christlichen Seefahrt egal sein kann, wo der Seemann seine Familie nicht sieht, stammt jener heute meistens von den Philippinen, aus Birma oder Kiribati. Hauptsache, er ist nicht so teuer. Und so kann er dann auch in Singapur seinen Dampfer besteigen, zum Beispiel. Crew-changing muss ja nicht in Hamburg stattfinden. Selbst wenn: Die Kommunikationstechnik erlaubt heute stundengenaue Logistik. Da werden nicht nur Container, sondern auch Matrosen just in time geliefert. Da muss keiner mehr die letzten Nächte vor dem Einschiffen im Seemannsheim abwarten.

Die ITF hat errechnet, dass Hamburg trotz des großen Hafens heute allenfalls noch 120 Matrosenbetten braucht. 121 Betten hat das Heim am Krayenkamp. Das passt doch. Aber es gibt noch zwei weitere christlich-deutsche Heime in Hamburg: das katholische Stella-Maris-Heim mit achtzig und das Altonaer Heim mit vierzig Betten. Das wird auch von der Evangelischen Seemannsmission geleitet, aber von einem anderen Verein getragen.

Seemannsheime sind Wohnzimmer für Fremde aller Länder, sind Wärmestuben der Aufklärung, waren stets ökumenische Avantgarde. Seemannsheime sind Brutstätten der Toleranz. Dann lass uns doch verdammt noch mal zusehen, dass das noch länger so bleibt.

Zusammenarbeit, ein gemeinsames Konzept, die heutzutage gerne genährte Hoffnung auf Synergieeffekte, würden eine Zukunft weisen. Aber von Profilneurosen sind auch Schäfchen auf kirchlichen Weiden nicht frei. Wäre es nicht sinnvoll, das Vermögen dreier Heime in einen Pool zu stecken, eines zu verkaufen, die anderen zu sanieren? Drobnik hat die Gespräche aufgenommen. Kann man nun auch schon die Seemannsheime nur mehr mit Fusionen retten?

Einstweilen dürfen jetzt auch Touristen übernachten. Nicht zu viele, damit die Gemeinnützigkeit nicht über Bord geht. Aber ein paar mehr könnten es ruhig sein. „Die Touristen vermindern den Verlust“, sagt Drobnik. Und balanciert auf dem Grat zwischen Wirtschaftlichkeit und christlichem Auftrag. Es kann ja nicht angehen, dass die Touristen am Ende die Seefahrer verdrängen. Dreißig, vierzig Seeleute hat er hier wohnen, die keine andere Adresse haben, darunter achtzehn Rentner. Auch den achtzigjährigen Seemann ohne einen einzigen Verwandten. Seemannsheim ist Familie. Bis ins Grab.

Dort, wo es in die kleine Kapelle geht, steht ein Tisch im Flur mit einem Schnellhefter darauf: „Gedenkbuch für auf See gebliebene Fahrensleute“. Das sind papierene DIN-A-4-Grabsteine. Mit Namen, zwei Daten und manchmal einer Angabe über den Beruf: Matrose, Maschinist, Kapitän. Es gibt ausgeschnittene Todesanzeigen, wo Reedereien den Tod von zwei Dutzend Mitarbeitern betrauern (Biskaya!), handgeschriebene Nachrufe wie „Er verstarb plötzlich und unerwartet in unserer Eingangshalle“ und „Hein war ein ehrlicher Knochen. Gott sei seiner Seele gnädig“. Auch Zeitungsausschnitte: „Streit im Seemannsheim: 1 Toter.“

In der Zeitschrift Deutsche Seeschiffahrt des Verbandes Deutscher Reeder werden Kapitäne gefragt, ob sie „gelegentlich gegen Entgelt eine Urne mitnehmen wollen, um diese in fernen Gestaden während der Fahrt still dem Meer zu übergeben“. Aber mancher alte Seemann hat die Schnauze voll vom Wasser. Oder kein Geld, die Urne professionell über die Kante schieben zu lassen. Für jene unterhält die Seemannsmission ein kleines Grabfeld auf dem großen Ohlsdorfer Friedhof, ein Stück Gottesacker, wo Unseren Seeleuten der letzte Anker geworfen wurde. Ein merkwürdiger Ort. So trocken, so grün.

Die Morgenandacht in der Heimkapelle hält Drobnik selbst. Er versammelt mit Nachdruck die Mitarbeiterinnen aus Küche, Putzbrigade und aller Mütter Länder. Wir singen das Lied 440. Und dann spricht er zu uns. Über Sein und Schein spricht er und darüber, wie die inneren Werte heutzutage nichts mehr gelten. Er verschreckt die Frauen mit harten Worten und verzaubert sie dann mit Herzlichkeit, schiebt einen Heimleiterappell hinterher, spart nicht mit Lob und verweist schließlich auf die Gefährdung des Heimes, des Arbeitsplatzes, der Zukunft.

Und auf den alten Seemann, dessen Kinder ihn nach dem Tod der Gattin ins Heim gesteckt haben und ihn nie mehr besuchen. Der hat niemand mehr. Und deshalb säuft der sich zu. Und deshalb macht der ins Bett. Damit sich wieder jemand um ihn kümmert. Aber natürlich ist das eigentlich nicht die Aufgabe der Frauen. Eigentlich.

Und dann betet Kurt Robert Drobnik mit uns: Lieber Gott. Lass uns nicht vergessen, für wen dieses Heim bestimmt ist. Nicht für uns, die wir hier unsere Arbeit machen dürfen, sondern für die Seeleute, denen es viel beschissener geht.

Nach dem Gebet fährt Pastor Drobnik in den Hafen. Wie jeden Tag. Er wird dort auf die Schiffe gehen, wird die Seeleute begrüßen, besuchen und betreuen, wird ihnen ein Ohr leihen und die Seele laben, wird ein paar Zeitungen in ihrer Muttersprache hinterlassen, ein paar Bücher tauschen und Videos. Er wird lachen mit den Filipinos, er wird den Kiribatesen gut zureden und mit den Männern aus Myanmar auch ein paar Sätze über Buddha wechseln. Gut wird er tun.

In Lübeck bietet das Seemannsheim an der Untertrave Nichtraucherzimmer, Gardinen in den Aufenthaltsräumen und gefüllte Obstteller in den Fernsehzimmern. Da steht gar eine echte Blume auf dem Tisch! Was hat das zu bedeuten? Ich sitze in der Bücherstube und lese in „Schiffs- und Seemannsheilkunde“ über den Einsatz von Rosmarin gegen Klabautermänner, von Fenchel bei Sturmwarnung und von Salbei gegen die Pest an Bord.

Dann kommen freundliche Männer und fragen, ob ich ihnen vorsingen wolle. Keine halbe Stunde im Seemannsheim und schon Männerchorprobe: Die Herren sind von Shantychor Mövenschiet. Trotzdem möchte ich nicht vorsingen.

Ich gehe auf meine Kammer. Ich habe Bett, Tisch, Stuhl, Schrank, fl. k. u. w. Wasser, ein großes Fenster und einen kleinen Schlüssel für mein Fach in der Küche. Eine Übernachtung kostet 36 Mark; wäre ich „Seemann mit gültigem Seefahrtsbuch oder Kontrakt und/oder Binnenschiffer mit gültigem Binnenschifferdienstbuch“, hätte ich lediglich 23 Mark zu zahlen. Bliebe ich als solcher einen ganzen Monat, beliefe sich die Miete auf 540 Mark.

Jetzt höre ich sie singen da unten. Und wie: „La Paloma“. Ihr junger Chorleiter hat ihnen ein Arrangement verpasst, das das Herz erweicht. So hörte man es noch nie jubilieren, ehrlich. Noch keine fünf Monate amtiert Monika Lehmann als Heimleiterin. Sie ist weder Diakonin noch Pastorin – sie ist Diplom-Ingenieurin und stammt aus Jüterbog im tiefen Brandenburg. Aus dem nachwendeschen Beschäftigungstaumel führt sie noch eine Visitenkarte als Unternehmensberaterin, hat schon die eine und die andere Wohlfahrtseinrichtung geleitet.

Plötzlich Lübeck. Sie soll hier managen. Sie soll mehr Betten voll kriegen und mehr Einnahmen machen. Sie soll das Defizit abbauen. Mit einem Halbtagsvertrag. Der Vereinsvorstand baut – wie es scheint – darauf, dass in der Diakonie auch die heidnischen Manager freiwillig rund um die Uhr zugegen und zugange sind.

43 Betten hat das Lübecker Seemannsheim. Nur die Hälfte der Betten wird von Seeleuten gefüllt. Einige Rentner sind darunter; andere, deren Schiffe abgewrackt oder verkauft wurden, hoffen, noch einmal angeheuert zu werden. Aber kaum einer teilt diese Hoffnung mit ihnen. Der Seemann zwischen zwei Schiffen, der ist auch im Lübecker Heim die Ausnahme.

Die Ausnahme heißt Uwe Leisner und ist 34 Jahre alt. Er hat vorletzte Woche den Sack gekriegt. So heißt das bei der Seefahrt, wenn einer rausgeschmissen wird, abgemustert. Aber auch nicht ganz gekriegt, sagt er, auch ’n büschn selbst genommen, den Sack.

Container fuhr er zuletzt zwischen Liverpool und Haifa, ein mittelgroßes Schiff, eine schöne Route mit schönen Häfen im Mittelmeer. Und dann kam plötzlich auf Zypern der Reeder an Bord mit einer dicken Aktentasche unter dem Arm. Der hat sich hinter seinen Ersten Offizier gestellt und gesagt: „Herr Leisner, es geht ja hier alles um Geld, nicht wahr.“

Und dann hat Leisner gewusst, was kommt: das Ausflaggen. Über Nacht. Viele Papiere gab’s umzuschreiben, viele Formulare neu auszufüllen. Und am nächsten Morgen war die Deutschlandflagge unten und die von Antigua gehisst. Und der Heimathafen überpinselt. Sicher – Uwe Leisner hätte weiterfahren können: unter stark gekürzter Heuer, ohne die üblichen Sozialleistungen. Das hat er nicht gewollt. Das hat den Reeder nicht gewundert. Und „weil man selber nicht so sein will, wie die sind“, hat er seinen polnischen Nachfolger auch noch eingearbeitet.

Der Erste, der chief mate, ist auch für die Lade- und Löscharbeiten zuständig, kommt also in den Häfen weder an Land noch zum Schlafen. Auf See hat er dann täglich die üblichen acht Stunden Wache, von vier Uhr bis acht Uhr und von sechzehn bis zwanzig Uhr, dazwischen koordiniert und kontrolliert er die Arbeiten der Decksmatrosen. Und er fährt sechs Monate am Stück oder neun. Da ist kein freier Tag dabei. Und manche müssen ein ganzes Jahr fahren.

Jetzt ist Uwe Leisner krank. Jetzt will er erst gesund werden und dann Urlaub machen. Er will in die Südsee fliegen, nach Kiribati. Unter Seefahrern von dort hat er Freunde gefunden. Vielleicht wird er bleiben. Vielleicht von dort aus zur See fahren. Vielleicht etwas ganz anderes beginnen. Dann wohnt wieder einer weniger bei der Lübecker Seemannsmission.

Monika Lehmann führt den Besuch vom Heizungskeller bis unters Dach. Sie zeigt, was sie schon schön gemacht hat und was sie als nächstes verschönern wird. Ihr Optimismus kommt sanftmütig daher und ist messerscharf. Sie wird das schaffen. Die ist hier so fremd, die ist in keine Vereinslobby verstrickt und keiner diakonischen Schule entsprungen. Die kriegt das hin.

Einen ersten bescheidenen Erfolg, eine leichte Verbesserung der Quote, hat sie schon erwirtschaftet. Sie bietet jetzt auch den anderen Außenseitern im Transportgewerbe Herberge: den Fernfahrern. Und zwar den finnischen. Die brauchen ein Dach über dem Kopf und eine Dusche und ein Bier und so etwas, bevor sie in Lübeck-Travemünde auf die Fähre können, oder bevor sie – nach der Fähre – in Deutschland auf die Straße dürfen. Die Zivildienstleistenden an der Pforte führen schon finnische Getränke im Sortiment.

Und die kleine Werbebroschüre, die Monika Lehmann gestern im Entwurf ihrem Vorstand vorgelegt hat, die schöne Fotos von freundlichen Zimmern in einem schmucken Seemannsheim zeigt, ist in drei Sprachen verfasst: Deutsch, english und suomen. Da halfen die Fernfahrer übersetzen.

Und das ist der zentrale Satz: „Wer nette Menschen in den Vordergrund seines Besuches stellt, ist bei uns richtig.“ – „Ich habe meinen Leuten angeordnet“, sagt Lehmann, „dass sie sich jederzeit in ein Gespräch mit Gästen verwickeln lassen sollen. Und dass das das Wichtigste ist. Auch wenn dann mal was andres liegen bleibt.“ Dann korrigiert sie schnell noch selbst das „angeordnet“. So ist es recht: aus Marketinggesichtspunkten das Urdiakonische tun. Einen fröhlichen Zivi hat Gott lieb. Einfach anlächeln gegen den Etagenduschensubstandard: Es funktioniert.

In der Nachttischbibel lesen wir im Hebräerbrief 13,2 den Leitspruch diakonischen Heimwesens nach: „Gastfrei zu sein, vergesset nicht: Denn dadurch haben etliche ohne ihr Wissen Engel beherbergt.“ Das Sprichwort aus der Heimat des indonesischen Matrosen ist noch prägnanter: Sei ein Mensch, dem ein Gast ein Gott ist. Das Seemannsheim in Jakarta soll ja das Schönste an allen sieben Meeren sein. Na also.

PETER SCHANZ, 43, oberfränkischer Herkunft, bis 1999 an verschiedenen Theatern engagiert, beobachtet und beschreibt Seefahrtsangelegenheiten. Er hat auf Frachtschiffen zweimal die Erde umrundet und dabei auch Seemannsheime hoch schätzen gelernt