modernes antiquariat
: Isolde Heynes Roman „Treffpunkt Weltzeituhr“

Frau Herzog will diskutieren

Vor dem Boom war auch schon Boom. Wir stellen in unregelmäßigen Abständen Berlin-Romane vor, die vor 1989 erschienen sind.

So war das damals: „Das Buch ist als politisches Zeugnis einer schwierigen Gegenwart und unserer speziellen deutschen Situation zu werten“, fand die Jury und verlieh 1985 Isolde Heynes „Treffpunkt Weltzeituhr“ den Deutschen Jugendliteraturpreis.

In den Achtzigern gab man sich gerne pathetisch und unkonkret. Über die „spezielle deutsche Situation“ war allerdings jedes westdeutsche Schulkind genauestens informiert. Im Sozialkundeunterricht wurde eifrig über die „innerdeutsche Grenze“ diskutiert, und wer in den 80er-Jahren zur Schule ging, durfte hoch subventionierte Klassenfahrten nach Berlin machen. Dort bekam man die spezielle deutsche Situation dann bei Ausflügen an die Mauer und in den Ostteil der Stadt als bedenkeswerte Sehenswürdigkeit vorgeführt.

Auch die vierzehnjährige Inka fährt in „Treffpunkt Weltzeituhr“ mit ihrer Klasse nach Berlin. Mitten hinein in die „schwierige Gegenwart“: An der Mauer „betrachtete Inka die Gesichter ihrer Klassenkameraden, die vieles widerspiegelten, was sie dachten: schönes Gruseln wie in einem Fernsehfilm, aber auch Betroffenheit und bei manchem so etwas wie ohnmächtige Wut.“

Inkas Situation ist selbst sehr speziell: Sie ist in der DDR aufgewachsen und durfte als Teenagerin in den Westen ausreisen – zu ihrer Mutter, die Jahre vorher ausgewiesen worden war und an die sie sich kaum erinnern konnte. So pathetisch und konkret konnte man damals sein, das Jugendbuch ist nur der Spiegel einer klischeebeladenen Zeit: Inka, die im Moment ihrer Ankunft im Westen „bisher nur zweimal Orangensaft“ getrunken hat und eigentlich „DDR-Spitzensportlerin“ werden wollte, hat nur eine halbe Mutter, dafür aber zwei Vaterländer.

Auf jeden Fall hat sie „drüben“ noch ihre Freundin Tutty: Während die Mitschüler bei einem Ausflug nach Ostberlin den Fernsehturm besichtigen, trifft Inka sie an der Weltzeituhr und macht sich vorher noch ein paar passende Gedanken zur Lage der DDR-Nation: „Da haben sie nun alle Zeiten auf der Welt, können sie einfach hier ablesen, und hinfahren dürfen sie nicht.“

Mit Tutty ist es dann aber toll, die beiden essen Eis in der Milchbar gegenüber der Weltzeituhr, und Inka kauft dann noch mit D-Mark tolle Geschenke im Intershop. Auf der Rückfahrt von Berlin nach Westdeutschland hat sie sich – zumindest auf persönlicher Ebene – mit Deutschland, so, wie es ist, erst einmal ausgesöhnt. Den Mitschülern ist’s eh egal, und nur Frau Herzog, die Lehrerin, hat noch Diskussionsbedarf: „Wir werden darüber reden. Da ist doch sicher vieles unklar geblieben.“

Fünf Jahre nach dem Erscheinen des Buches klärte sich bekanntlich einiges von selbst. Isolde Heyne, die selbst 1979 aus „politischen Gründen“ die DDR verlassen hatte, hat für die nach der Wiedervereinigung erschienenen Neuauflagen von „Treffpunkt Weltzeituhr“ ein beglücktes Nachwort geschrieben. Diskussionsbedarf sieht sie allerdings trotzdem noch: „Jetzt gilt es, auch die Mauern und Zäune in den Gedanken und in den Herzen einzureißen.“ Auch an diesen Ton kann man sich noch gut erinnern. In den Neunzigerjahren ging der Sozialkundeunterricht weiter.

KOLJA MENSING

Isolde Heyne: „Treffpunkt Weltzeituhr“. Arena Verlag, Würzburg 1998, 159 Seiten, 8,90 DM