Der Terror der Ökonomie

DIE NEUEN UTOPIEN (10): Wir müssen nicht zurück zur sozialen Utopie – wir leben darin. Diese Begriffsverwirrung der Moderne wird im 21. Jahrhundert auf die Spitze getrieben

Die Zeit der sozialen Utopien sei abgelaufen, so belehren uns hämisch kapitalistische Siegertypen, vorlaute Neureiche und Krisenverwalter der Neuen Mitte: Dagegen sei smarter Pragmatismus angesagt im ewigen Reich von Marktwirtschaft-und-Demokratie.

Welch ein Pragmatismus, der sich Konzepte für Billiglohn-Sektoren ausdenkt, der mit pazifistischen Fernbombern in den heiligen demokratischen Weltordnungskrieg gegen die Ungeheuer zieht, die von seiner Weltvernunft der „Modernisierung“ selber gezeugt wurden, und der uns stets die Wahl zwischen einer wachsenden Anzahl von Übeln lässt – mit der feierlichen Versicherung, eben darin bestehe die glorreiche Freiheit der „selbstverantwortlichen Individuen“! Während die Welt in Massenarmut, Chaos und Bürgerkriegen versinkt, wird über die Medien der demokratische politische Kitsch abgelassen, der nicht einmal mehr unglaubwürdig ist. Ein bisschen viel Pragmatismus auf einmal.

Zurück also zur sozialen Utopie? Aber wir sind doch mittendrin! Das mag sich zunächst verwirrend anhören. Aber nur deswegen, weil in der Geschichte der „Modernisierung“ eine Verwirrung der Begriffe stattgefunden hat. Denn „utopisch“ legitimiert hat sich ursprünglich keineswegs die immer wieder aufflammende soziale Revolte gegen die Zumutungen der kapitalistischen Geldherrschaft und ihrer endlosen Modernisierungswalze. Von den Bauernkriegen bis zum schlesischen Weberaufstand ging es eher um die Verteidigung „alter Rechte“, um die Abwehr von massiven Verschlechterungen der Lebenslage, eine Art pragmatisch verzweifelte Verteidigung eigentlich selbstverständlicher Lebensrechte und Lebensstandards.

Es waren die Kräfte der „Modernisierung“ selbst, die mit dem totalitären Anspruch auf die Verwirklichung „utopischer“ Ziele über die Menschen hereinbrachen. Denn der damals noch embryonale Kapitalismus brachte eine realutopische Zudringlichkeit neuen Typs mit sich. Keineswegs friedlicher Handel und Wandel brachten das moderne Waren produzierende System hervor, sondern der unersättliche Geldhunger der frühmodernen Militärdespotien mit ihrer neuen „politischen Ökonomie der Feuerwaffen“: die Geburt des Kapitals aus dem Geist der Kanone. Von der exzessiven Erhöhung und gleichzeitigen Monetarisierung der erpressten Abgaben ging die „Vermarktwirtschaftlichung“ der Gesellschaft aus, zunächst vermittelt durch die absolutistischen Staatsapparate.

Was sich da schon bald zum „System“ des in endloser Verwertungsbewegung auf sich selbst rückgekoppelten Geldes schloss, konnte von Anfang an nichts anderes als die permanente, lückenlose Erfassung und Ummodelung der Menschen im zyklopischen Auge haben.

Wie schon in der Frühform von Platons „Idealstaat“, so reflektierten etwa das „Utopia“ und der „Sonnenstaat“ der Herren Morus und Campanella die Zwangsvorstellung eines total kontrollierten Menschenmaterials, das auch innerlich unter dem Bann eines ihm vorgegebenen abstrakten Zwecks steht. Und wo die Gegenbewegungen selber quasi-totalitäre Züge annahmen, etwa im berüchtigten Täuferreich von Münster, da waren sie bereits mit der utopistischen Energie der Gegenseite kontaminiert und selber zu einem Impulsgeber der „Modernisierung“ mutiert.

Bei großen, zunächst unverstandenen Epochenbrüchen lassen sich Freund und Feind eben nicht immer genau unterscheiden und gehen ineinander über. Durch die verschiedensten und oft phantastischen Verkleidungen hindurch, in vielen Ländern und lange Zeit vorwiegend durch rigide Staatsgewalt fortentwickelt (von Oliver Cromwell bis Adolf Hitler), schälte sich in immer neuen paranoiden Schüben allmählich bis zur Kenntlichkeit der eigentliche „Sinn“ der heraufdämmernden Ungeheuerlichkeit heraus: die Verwandlung der Menschen mit allen ihren Fähigkeiten und Bedürfnissen in bloße Anhängsel einer verselbständigten „Ökonomie“, in „freiwillige Sklaven“, die sich gewohnheitsmäßig unter das Joch von „Arbeitsmärkten“ beugen, durch die abstrakte betriebswirtschaftliche Fließzeit und in die anonyme Konkurrenz hetzen lassen. Und diese unlebbare Unmöglichkeit, dieser Zwang zur totalen Selbstauslieferung konnte sich tatsächlich als Körper der Gesellschaft inkarnieren, zur inneren Verhaltensspur werden.

Kapitalismus ist nichts anderes als realisierte Negativutopie, zum Ort der Welt gemachte Ortlosigkeit. Und im Zuge dieser Verwirklichung des Unmöglichen setzte die Umwertung der Begriffe ein: Der mit ungeheurer Gewalt aus dem Boden gestampfte „neue Mensch“ nach dem Bilde des Kapitals wurde zum „natürlichen Menschen“, das monströse System der Wertverwertung zur „natürlichen Ordnung“, die zur Herrschaft gelangte strukturelle Irrationalität zur lichten Vernunft erklärt.

Umgekehrt mussten in der einmal verwirklichten schwarzen Utopie das Geltendmachen der simpelsten Bedürfnisse und die pragmatische Vernunft im Umgang mit den Dingen den falschen Namen des Utopischen annehmen. Es war utopisch geworden, mit den vorhandenen Mitteln und Fähigkeiten ein auch nur einigermaßen annehmbares Leben zu führen. Es war utopisch geworden, die im Namen der kapitalistischen Realutopie blind vorangepeitschten Produktivkräfte auch nur in einigermaßen vernünftige Bahnen zu lenken.

Wie es scheint, will das 21. Jahrhundert die Begriffsverwirrung der realutopischen Moderne noch einmal zuspitzen. Seiner staatstotalitären Schlacken entledigt, bricht sich der umso unerbittlichere Totalitarismus des Marktes Bahn. Der „Terror der Ökonomie“ verlangt den „neuen Menschen“ im Jahres-, Monats- und Wochentakt ab. Die atomisierten Individuen sollen wie Pawlowsche Hunde auf die Signale „der Märkte“ reagieren. Das ausgelöschte Selbst ist die letzte Konsequenz der totalen Flexibilisierung.

Gleichzeitig lässt es diese utopisierte Welt als utopisch erscheinen, dass in der weltbeherrschenden Vormacht USA weniger als sieben Millionen Kinder hungern müssen. Blanke Utopie, dass das universelle Medium des Internet der ebenso universellen menschlichen Selbstverständigung über den vernünftigen Einsatz der gemeinsamen Ressourcen dienen könnte, wo es in der herrschenden Negativutopie nur ein universeller Marktplatz des inhaltlichen Schwachsinns sein darf. Lächerlicher Utopismus auch, die gemeingefährlichen Atomkraftwerke früher als in 30 Jahren abzuschalten.

Der eschatologische Pragmatismus der Neuen Mitte kann schon seinem Namen nach nur als fanatische Ideologie auftreten, um das Dogma irrationaler Konkurrenzzwänge zu exekutieren. In der Welt des Kapitals ist nur der offene Wahnsinn realistisch. So muss der Rest von Vernunft ins Utopische eingebannt bleiben. Wenn wir Pragmatiker im Umgang mit der Welt und mit uns selbst werden wollen, müssen wir also in diesem Sinne tatsächlich utopisch werden.

ROBERT KURZ

Hinweise:Kapitalismus ist eine realisierte Negativutopie, zum Ort der Welt gemachte OrtlosigkeitWenn wir Pragmatiker im Umgang mit der Welt werden wollen, müssen wir utopisch werden