Der Kandidat hat 90 Punkte

In seiner mit Spannung erwarteten Rede auf dem Parteitag der Demokraten in Los Angeles versucht Präsidentschaftskandidat Al Gore sich von Amtsinhaber Bill Clinton zu lösen und sein eigenes Profil zu schärfen. Dabei gibt er einen guten Republikaner ab

aus Los Angeles PETER TAUTFEST

Manny Cisneros aus Arizona steht mit einem Telefonhörer in der Hand vor einem der in der Arena postierten Computerstationen. Er überzeugt sich, dass die HelferInnen die dreieckigen Gore-Wimpel verteilen und die Delegierten ihre runden „Tipper Rocks“-Schilder weggelegt haben, mit denen sie gerade noch Tipper Gore bejubelt hatten, die ihren Gatten vorstellte. Er hebt die Hand und ruft „fünf Minuten“. Die Dramaturgie ist perfekt, chinesische oder koreanische Parteitage könnten nicht besser organisiert sein.

Anders als Clinton, der durch den Servicetrakt auf die Bühne kam, während ihm die Kamera folgte und über die Schulter auf das Publikum gerichtet war, schreitet Gore durch das Wimpel schwenkende, jubelnde Publikum. Der Beifall brandet fünf Minuten, bis die überall verteilten Manny Cisneros die Hand heben und die Menge verstummt. Gore beginnt zu sprechen.

Al Gores Rede war mit Spannung erwartet worden. Seine Aufgabe war es, sich von Clinton zu lösen und als Mensch, Mann und Politiker zu präsentieren; sein Programm zu entfalten und sich nicht in Details zu verlieren. Und er musste die liberale Parteibasis erreichen, ohne die Konservativen zu verschrecken – und das alles von einer Stelle aus, von der vor 40 Jahren Kennedy gesprochen hatte. Vor allem aber musste er sich von seinem Kontrahenten Bush absetzen.

Gore versuchte erst gar nicht, es Bush gleichzutun. Seine Rede ließ jeden Schliff vermissen. Auch bemühte er sich nicht, volkstümlich zu wirken, sondern ging sein Handicap frontal an: „Ich weiß, dass Leute sagen, ich sei zu ernst und fachsimple zu viel über Politik – ich weiß, dass ich nicht immer ein aufregender Politiker sein werde“, sagte er zum Jubel der Delegierten. Aber „die Präsidentschaft ist mehr als ein Popularitätswettbewerb“.

Die Spitze richtete sich gegen George W. Bush. Übernommen aber hat er den Satz aus der Rede von dessen Vater, der vor zwölf Jahren vor der gleichen Aufgabe stand: sich von dem Schatten eines überlebensgroßen und populären Präsidenten zu lösen. „Ich bin manchmal ein unbeholfener Mann“, hatte Bush damals gesagt. Jedoch machte Gore auch noch andere Anleihen bei Bushs Rede von 1988. Dessen Diktum, dass er für eine „sanftere, gütigere Nation“ arbeiten wolle, kehrt bei Gore als Bitte um Unterstützung bei der Schaffung eines „besseren, faireren und wohlhabenderen Amerikas“ wieder.

Überhaupt klang Gore zeitweise, als halte er die Rede eines Republikaners. Außer der ständigen Beschwörung von Familie und den „Family Values“, warf er der Unterhaltungsindustrie und ihren Gewalt verherrlichenden Filmen den Fehdehandschuh hin, versprach die Erbschaftssteuer abschaffen und die Doppelbesteuerung so ändern, dass Verheiratete nicht mehr zahlen als zusammenlebende Singles. Nur werde er das so tun, dass die Steuererleichterungen auch den mittleren und unteren Einkommen zugute kämen.

Um sein soziales Programm zu skizzieren, bediente sich Gore eines Kunstgriffs, den Clinton 1996 angewandt hatte. Jeder Punkt wurde anhand konkreter Fälle illustriert. Dabei stand jeder Name für einen Missstand, den Gore abstellen will: Caterina Guitierrez geht in San Antonio in eine heruntergekommen Schule; Familie Malone musste mit der Krankenversicherung prozessieren, um die Pflege für ihren behinderten Sohn durchzusetzen. Die Menschen waren leibhaftig anwesend, die Kamera holte sie auf die Leinwand.

Gore versprach eine Reform der Krankenkassen, damit auch die Kosten für Medikamente übernommen werden, ein Gesetz, das Patienten einklagbare Rechte gegenüber den Krankenkassen einräumt, und höhere Ausgaben für Schulen. Er stellte sich als jemand dar, der die Fähigkeit hat, Leuten zuzuhören.

Gore vollbrachte die Meisterleistung, sich nach links und rechts abzusichern. Er verband einen Appell an den sozialen Konservatismus des Landes mit klassischen sozialdemokratischen Anliegen – und versprach sehr bescheidene Reformen.

Laut einer von outreach.com durchgeführten Umfrage, bei der Internetbenutzer jeden Absatz der Rede bewerteten, bekam Gore gute Noten. Die Zustimmung von Demokraten bewegte sich zwischen 70 und 90 von 100 möglichen Punkten. Selbst die Reaktion der Republikaner lag nur wenig unter der mittleren 50er-Marke, die eine neutrale Meinung markiert. Kommentare werteten Gores Rede als Erfolg. Mit ihr habe er sich als deutlich konturierter Gegner von Bush für die heiße Phase des Wahlkampfs empfohlen.

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