Barak will eine Verfassung für Israel

Der israelische Ministerpräsident will dem Land binnen einem Jahr eine Verfassung geben. Alle bisherigen Versuche sind am Widerstand der Orthodoxen gescheitert. Sie sind gegen Gleichheit vor dem Gesetz und die Anerkennung des obersten Gerichts

aus Jerusalem ANNE PONGER

Heftige Reaktionen – begeisterte Zustimmung als auch scharfe Ablehnung – hat gestern die Ankündigung von Ministerpräsident Ehud Barak ausgelöst, er werde innerhalb eines Jahres in der Knesset die Gesetzgebung zu einer geschriebenen Verfassung erwirken. Israel ist 52 Jahre nach der Staatsgründung eines der wenigen demokratischen Länder der Welt, die keine Verfassung besitzen.

Nach der Staatsgründung am 14. Mai 1948 wurde zwar beschlossen, dass die erste gewählte Legislative eine Verfassung formuliert. Versuche zweier Ministerpräsidenten scheiterten am Widerstand der ultra-orthodoxen und religiösen Parteien, die sich aus theologischen Gründen vor allem den Grundrechten von Gleichheit vor dem Gesetz und der Religionsfreiheit sowie der Anerkennung des obersten Gerichts als höchster juristischer Autorität widersetzen.

Ehud Baraks Vorschlag scheint zu diesem kritischen Zeitpunkt ein Manöver zu sein, die bisherigen politischen Koalitionen zu zerschlagen, sowohl der Arbeiterpartei mit den Orthodoxen, als auch des Likud und der russischen Einwandererpartei mit den Thora-Gläubigen. Nach den Enttäuschungen mit den religiösen Koalitionspartnern, die ihn vor den Friedensverhandlungen in Camp David verließen, strebt Barak eine säkulare Koalition in Regierung und Knesset an.

Likud-Führer Ariel Scharon warf dem Ministerpräsidenten gestern vor, er versuche, die Knesset und die Bevölkerung mit populistischen Ideen auf seine Seite zu ziehen. Die Wochenendumfragen hatten erneut ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Barak und einem potentiellen Likud-Kandidaten Benjamin Netanjahu im Falle von Neuwahlen prophezeit. Auch die Likud-Abgeordneten Reuven Rivlin und Zippi Livneh unterstellten dem Ministerpräsidenten, er reagiere „hysterisch“ auf den Verlust einer funktionsfähigen Regierung. Dennoch gaben sie zu, dass Israel eine geschriebene Verfassung brauche. Der vom Likud zur Zentrumspartei übergewechselte Abgeordnete Dan Meridor sagte indes voraus, dass ein Verfassungsentwurf eine Mehrheit von säkularen Abgeordneten hinter sich vereinen würde.

Eli Jischai, Vorsitzender der orientalisch-orthodoxen Schas-Partei, warnte, die Initiative Baraks verletze die jüdischen Werte des Staates und werde einen Kulturkampf auslösen. Mosche Gafni, Führer der Partei „Thora-Judentum“, nannte Barak einen „verantwortungslosen Politiker“, der Israel in einen unjüdischen Staat verwandeln und ihn dadurch zerstören werde.

Mangels einer säkularen, bürgerlichen Verfassung und wegen der Abhängigkeit aller Regierungen von religiösen Koalitionspartnern gibt es in Israel keine Zivilehen und -scheidungen, keine säkularen Begräbnisse, weder Militär-oder Zivildienst für Religionsseminaristen, keinen öffentlichen Verkehr am Sabbath, Diskriminierung von Frauen vor Rabbinatgerichten sowie ungleiche Rechte für arabische Staatsbürger. Außerdem erkennen die Orthodoxen die Urteile des obersten Gerichts nicht an, wenn sie den halachischen, das heißt den jüdisch-religiösen Gesetzen widersprechen.

Einer Mehrheit in Bevölkerung und Knesset ist dieser Zustand ein Dorn im Auge, ist er doch das Resultat jahrzehntelanger politisch-religiöser Erpressung. Auch den Politikern im Likud und in der Russenpartei ist bewusst, dass ihre Wähler eine Verfassung wünschen und Koalitionen mit religiösen Parteien verabscheuen. Sollte es sich bei Baraks Vorschlag um eine Wahlkampfvorbereitung handeln, werden auch die Oppositionsparteien die Verfassungssehnsucht der Bevölkerung in Betracht ziehen müssen.