Dialog im rechten Winkel

Projektionsfläche für Millionen Bilder: Der chinesische Konzeptkünstler Young Hay schnallt sich eine weiße Leinwand auf den Rücken und lässt sich damit überall auf der Welt fotografieren. Seine Arbeiten sind bei Asian Fine Arts zu sehen

Young Hay läuft durch große Städte mit einem weißen Rechteck auf dem Rücken. Er erkundet die Oberfläche der fremden Territorien und stellt sich mit seinem Rechteck in ihre Winkel und Bruchstellen hinein. Er rückt das Rechteck, einen fast mannshohen, mit weißer Leinwand bespannten Rahmen, in den Fokus der Kamera, die ihn fotografiert. Damit verschwindet der Träger hinter seinem Gegenstand, ein Stück seiner Beine bleibt sichtbar. Die Schwarzweißaufnahmen von Young Hay als laufendem Rechteck, das Stadträume für Momente besetzt und verändert, sind jetzt zusammen mit Arbeiten des Berliner Fotografen Christian Rothmann, der Young Hay in Berlin begleitete, bei Asian Fine Arts zu sehen.

Young Hay ist Asiat und zugleich geprägt von der europäischen Moderne. Der 36 Jahre alte, in Hongkong lebende Chinese glaubt an die Möglichkeit des Dialogs zwischen dem Rechteck und seiner Umgebung als Dialog zwischen Menschen, der nicht ihren Köpfen, sondern ihren Herzen entspringt. Dabei bietet er sein weißes Rechteck als Projektionsfläche für Millionen von Bildern.

Seine Performance-Arbeit zielt auf direkten zwischenmenschlichen Austausch, der in den meisten Fällen mit der Frage der Passanten nach der Bedeutung des „Bildes“ beginnt. Die weiße Leinwand, Paradebeispiel der nicht gegenständlichen Darstellung in der modernen Malerei, ist der Wirkfaktor des Kommunikationsprozesses, den Young Hay auf der Straße wiederzufinden hofft: Sie entzieht sich eindeutiger Bestimmung und erlaubt dem Betrachter das Spiel der individuellen Deutungen. „Ein junger Mann in New York, der gerade Tiefkühlfisch aus seinem Transporter entlud, als er mich mit dem Bild sah, meinte, es könnte alles sein. Und genau das ist es: Jeder, der es betrachtet, sieht möglicherweise etwas anderes, seine ‚Bilder‘ und Imaginationen.“

Zum ersten Mal schnallte sich Young Hay an einem Sonntag im Jahre 1995 die weiße Leinwand auf den Rücken und lief damit viereinhalb Stunden durch Hongkong. „Hongkong ist sehr busy, die Leute machen irgendein ‚Geschäft‘ und ignorieren alles, was nicht in ihren Horizont passt. Kunst wird hier nicht ernst genommen. Wenn du jemandem sagst, du bist Künstler, fragt er gleich: Ja, und was ist dein richtiger Job? Die Leute glauben, Kunst ist so ein Hobby, das kann man nebenbei machen, am Sonntag“, konstatiert der Künstler nüchtern.

In New York und Berlin stieß sein Projekt „Bonjour Young Hay (after Courbet)“ auf mehr Interesse. Und auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking wurde der Künstler von misstrauischen Sicherheitskräften beobachtet und kontrolliert. Allein die naive Vorstellung, dass er nur eine Leinwand zu einem bestimmten Ort trage, um sie später zu bemalen, räumte ihm unbehelligte dreißig Minuten vor der Verbotenen Stadt und Maos Bildnis ein.

Die eigenen Arbeiten von Christian Rothmann dagegen, der Young Hay in Berlin fotografierte, sind große, bunte Fotografien, die er in den Straßen von Hongkong aufgenommen hat. Doch auch hier steht der Aspekt spontaner, nicht inszenierter Kommunikation im Mittelpunkt: Passanten, Händler und Darsteller der Pekingoper halten ein Porträtfoto von Rothmann in der Hand und schauen dabei in Rothmanns Kamera. Über die sehr realistischen, quietschbunten Fotos, die an Urlaubsschnappschüsse erinnern, ordnet er verschwommene Aufnahmen von Dingen, deren Konturen sich aufzulösen scheinen.

JANA SITTNICK

Bis 16. 9., Di.–Sa. 12–19 Uhr, Asian Fine Arts, Sophienstraße 18, Mitte