„Nicht endlos verhöhnen lassen“

Die Grundrechte gelten laut Bundestagspräsident Wolfgang Thierse nicht schrankenlos für diejenigen, die praktisch für ihre Abschaffung kämpfen

Interview CHRISTIAN SEMLER

taz: Herr Thierse, Sie haben sich in letzter Zeit mehrfach zum Rechtsradikalismus und zu der Frage, wie man ihn am besten bekämpfen kann, geäußert. Mit Hilfe welcher Quellen, abgesehen vom Bericht des Verfassungsschutzes, haben Sie sich informiert?

Wolfgang Thierse: Meine erste Quelle sind meine eigenen Erfahrungen. Seit einem Jahr reise ich durchs Land, besonders durch die neuen Länder, spreche mit Initiativen, Kommunalpolitikern, polizeilichen und sonstigen Behörden. Ich habe mir selbst ein Bild davon gemacht, wie gefährlich die Lage an vielen Orten in Wirklichkeit ist und wie sehr wir hinter dem zurückbleiben, was getan werden müsste.

Hatten Sie auch Gelegenheit, mit jungen Rechtsradikalen zu sprechen?

Ab und zu ja, aber das ist nicht ganz einfach. Diese Leute sind nahezu unfähig zum Dialog, sie sind voll gestopft mit Propagandamüll und Vorurteilen.

Brandenburgs Innenminister Schönbohm, der kürzlich über solche Gespräche berichtete, scheint sich da nicht so schwer zu tun.

Vielleicht hatte er zugänglichere Gesprächspartner.

Wie beurteilen Sie die in letzter Zeit vielfach erhobene, aber auch oft kritisierte Forderung, die NPD zu verbieten?

Das Für und Wider eines Verbotsverfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht ist jetzt endlich in der Diskussion. Meines Erachtens darf diese Diskussion nicht vom Tisch gewischt werden, es gibt kein Zurück mehr hinter den erreichten Stand der argumentativen Auseinandersetzung. Ich bin dafür, dass vom Bund und von den Ländern alles Material zusammengetragen und alle Argumente geprüft werden, die einen Verbotsantrag tragen würden. Wir müssen einen solchen Antrag sorgfältig vorbereiten. Stellen Sie sich den Triumph der NPD vor, falls der Verbotsantrag vom Bundesverfassungsgericht abgewiesen würde.

Wer soll den Antrag erarbeiten?

Es existiert bereits eine Bund-Länder-Kommission der Innenminister, die mit der Thematik befasst ist. Experten, auch der Verfassungsschutz, nehmen teil. Sie sollen die Vorbereitungsarbeit leisten, aber zügig.

Haben Sie den Eindruck, dass es jetzt gilt, lang Versäumtes schleunigst nachzuholen?

Ja.

Welche Indizien sehen Sie selbst für eine Verfassungswidrigkeit der NPD?

Die NPD ist offensichtlich das Sammelbecken der besonders aggressiven, gewaltbereiten Kräfte im rechtsextremen Spektrum.

Wie wollen Sie dem taktischen Argument begegnen, ein Verbot führe lediglich dazu, dass die Beobachtung und die Verfolgung Rechtsradikaler erschwert würde?

Ich verkenne nicht die pragmatische Berechtigung dieses Arguments. Aber bitte bedenken Sie, dass die Rechtsradikalen bislang ihre legalen Möglichkeiten voll ausgeschöpft, dass sie von der Legalität maximal profitiert haben. Ich weiß nicht, was in den Köpfen der NPD-Führer vorgeht, aber sicher ist, dass sie alle Chancen nutzen, die das verhasste „System“ ihnen bietet. Aber jenseits dieser pragmatischen Argumente existiert für mich noch ein wichtiges normatives Argument. Wir müssen klarstellen, dass das Parteienprivileg, dass die Grundrechte nicht für jene schrankenlos gelten, die die demokratischen Werte mit Füßen treten, die praktisch für ihre Abschaffung kämpfen. Der demokratische Staat darf sich nicht endlos verhöhnen lassen.

Was halten Sie von der Möglichkeit, der NPD den öffentlichen Geldhahn zuzudrehen, aus dem sie jährlich via Parteienfinanzierung über eine Million Mark erhält?

Das geht nur über das Verbot der NPD bzw. eventueller Ersatzorganisationen.

Sehen Sie in der Änderung der entsprechenden Passagen des Parteiengesetzes, z. B. in der Heraufsetzung der Mindest-Stimmenquote, die eine Partei bei Wahlen erhalten muss, um zu Geld zu kommen, einen gangbaren Weg?

Nein. Würden wir diese Quoten erhöhen, so würden sich andere Kleinparteien zur Wehr setzen. Nehmen Sie als Beispiel die „Grauen Panther“, die gewiss nicht im Verdacht des Rechtsradikalismus stehen. Und die Klage einer solchen Partei vor dem Bundesverfassungsgericht wäre nicht ohne Chance.

Wie beurteilen Sie die Vorschläge des sächsischen Ministerpräsidenten Biedenkopf, durch den Einsatz bestehender oder neu zu schaffender privatrechtlicher Klagemöglichkeiten die NPD oder andere Rechtsradikale mit Schadensersatzansprüchen zu konfrontieren?

Ich beurteile diese Vorschläge außerordentlich positiv. Sie erweitern des Spektrum unserer Aktionsmöglichkeiten. Es sollte dafür gesorgt werden, dass das Parlament sich so bald wie möglich mit Biedenkopfs Vorschlägen befasst.