Wo die Stadt zur Bühne wird

In den 60er-Jahren war die Karl-Marx-Allee das moderne Gegenstück zur Stalinallee: luftig und visionär. Heute wartet der Ostberliner Boulevard auf neues Publikum. Ein Spaziergang

von ULRIKE STEGLICH

Die Fensterscheibe ist immer noch kaputt. Sie geht auf das Konto eines Filmteams, das hier, im ehemaligen Café Moskau, einmal gedreht hat. Filmteams sind so. Das Versprechen, die Scheibe zu ersetzen, wurde ganz offensichtlich bis heute nicht eingelöst. Wozu auch, mögen sich die Filmleute gedacht haben angesichts eines seit Jahren leer stehenden, langsam vor sich hin rottenden Gebäudes.

Die Fenster im Erdgeschoss sind – wo nicht mit Sperrholz vernagelt – mit trüb-olivbraunem Stoff verhängt. Das Café hat eindeutig schon bessere Tage gesehen. Sogar noch in der postsozialistischen Kreditkarten-Ära. Die Mastercard-Aufkleber am Eingang sind der Beleg.

Das Moskau sieht aus wie ein ungeliebtes Kind, das schon verloren hat. Im Pavillon gegenüber tobte noch bis vor kurzem der Kampf: Mit riesigen Buchstaben aus Klebefolie stellte sich ein Fliesenhändler dem freien Markt. Mitten auf dem Boulevard, den die ehrgeizigen Berliner Planer zu „den Linden des Ostens“ hochziegeln wollen. Was auch immer darunter zu verstehen ist: Der Fliesenhändler wird nicht mehr dabei sein.

Karl-Marx-Allee, zweiter Bauabschnitt: So heißt das Gebiet entlang der achtspurigen Magistrale zwischen Strausberger und Alexanderplatz im Osten der Stadt. Entworfen wurde es Ende der 50er von Josef Kaiser und Werner Dutschke. Das Ensemble mit dem Kino International, dem Café Moskau, der früheren Mokka-Milch-Eisbar, mehreren Pavillons und der ersten Reihe der Wohnbauten zu beiden Seiten steht unter Denkmalschutz. Doch die Moderne hatte – zumindest in der offiziellen Stadtplanung des letzten Jahrzehnts – mehr Feinde als Freunde. Der lange Leerstand der Pavillons und des Café Moskau schienen die Sprüche von der „Tristesse“ und „trostlosen Leere“ des Ortes nur zu bestätigen.

Dabei könnte die Straße etwas werden, was sie noch nie war: „hip“. Nicht nur, weil sie viele Parkplätze hat.

In den 60ern war das Ensemble ein neues, modernes Aushängeschild: luftig und visionär. Ein Versprechen nach dem Trümmerchaos. Eine Befreiung nach der steinern-altväterlichen Zuckerbäckerei in der Stalinallee der 50er. Licht, Luft, Sonne. Kino, Cafés, Läden. Jede Menge Platz zum Flanieren. Trotzige Lebenslust hinter dem Eisernen Vorhang. So große Fensterscheiben wurden später in der DDR nie wieder produziert.

In den späten 80ern dann war die Stimmung lethargisch, wirkte der Ort manchmal kühl und starr. Das lag vor allem an der Tribüne, die zweimal im Jahr kurz hinter dem International aufgebaut wurde. Drauf standen alte Männer mit eingefrorenen Mundwinkeln, die die Parade abnahmen.

Aber eine „location“ war dieses Terrain bislang nie. Noch nicht.

Sommerlicher Sonntagnachmittag. Freie Bahn auf den acht Spuren der Straße. Ein Cabrio fährt vorbei, Verdeck offen, Techno laut. Die Karl-Marx-Allee verträgt das. Eine der wenigen Straßen, auf denen Angebercabrios nicht lächerlich wirken. Es passt zu ihr, es passt zu diesem weitläufig konzipierten Stück Stadt. Der Architekt Josef Kaiser, der dieses Stück Stadt gebaut hat, war auch Opernsänger. Er liebte Auftritte. Und baute Räume, die Auftritte ermöglichen. Wenn da jemand die Straße langkommt, sagt die Kunsthistorikern Simone Hain, dann siehst du ihn sofort. Und in den gläsern-durchsichtigen Pavillons wurden zu DDR-Zeiten unzählige Modefotos geschossen.

Denn wo konnte man sich besser inzenieren als in diesen lichten Räumen und auf solchen Treppen. Breite Treppen wie in der legendären Mokka-Milch-Eisbar oder im Kino International gleich nebenan. Wohl deshalb fasziniert das Kino noch immer: weil es ein richtiges Filmtheater ist. Eine Bühne. Mit Treppen zu beiden Flanken und einem schweren samtenen Vorhang. Ein Premierentheater, an dem sich noch heute verblüffte Westdeutsche begeistern können. Und nebenan, auf der geschwungenen Treppe der „Mokke“, probierten nach dem Film DDR-Teenager den Starauftritt.

Hinter dem Kino eine Hochhausscheibe. Hellblaue Fassade, viel Glas, viele Zimmer. Sieht aus wie Josef Kaisers Berolina-Hotel. Ist aber das Rathaus Mitte und ein Nachbau. Weil der Senat den einstigen Sitz des Bezirksamtes am Alexanderplatz verkauft hatte, musste dringend ein neues Quartier her. Deshalb wurde 1996 das alte denkmalgeschützte Hotel abgerissen und ein neuer Bau nach strengen Vorgaben der Denkmalpflege errichtet, für den der Bezirk nun aus seinem schmalen Haushalt eine saftige Miete bezahlen muss – an den privaten Bauherrn und Eigentümer Trigon. Berliner Politik.

Vor dem Rathaus streckt eine behäbige Skulptur ihre Arme gegen den offenen Platz aus, der geradezu zu Demonstrationen einlädt. Man braucht für solche Räume ein wenig Selbstbewusstsein. Sonst fühlt man sich bald verhuscht, ausgesetzt und unwohl.

Architekt Chistian Roth fühlt sich sichtlich nicht unwohl. Die Tür des gläsernen Pavillons gegenüber dem Kino steht offen. Auch am Wochenende. Junge Architekten müssen viel arbeiten. Die Passanten können ihnen durch die großflächige Fensterfront des Pavillons dabei zusehen. Roth, ein junger Mann, bleibt freundlich-gelassen: Wenn es uns wirklich nervt, machen wir eben die Vorhänge zu.

Im Januar haben „Zanderroth Architekten“ den Pavillon links neben dem Café Moskau bezogen. Es sei nicht ganz einfach gewesen, die Räume von der Treuhand Liegenschaftgesellschaft anzumieten. Ob er sich auch von der Architektur angezogen gefühlt habe? Es ist die dämlichste Frage, die man einem Architekten, der sich hier einmietet, stellen kann. Der bleibt höflich und sagt bloß: „Wir haben das gesehen und gedacht, hier könnte man arbeiten.“

Die Ausstattung passt zur Architektur: sparsam und zurückhaltend, licht wie der Pavillon: Weiße lange Vorhänge, helles Holz. Und natürlich die Treppe. Sieht man die Räume, ahnt man, dass in Sachen Nutzungen der Fliesenmarkt nicht das letzte Wort sein wird. Das findet auch Roth: Die früheren Nutzungen einer Ladenstraße würden hier nicht funktionieren, zu weitläufig sei das Gelände.

So etwas wie Zuneigung muss im Spiel sein bei Christian Roth. Das verrät dezenter Spott: Das Albert’s gegenüber sei doch ziemlich furchtbar. Wo denn da eigentlich der Denkmalschutz gewesen sei, als man das so umgebaut hat? Roth guckt, als würde er sich lieber selber Stullen schmieren, als da hinzugehen.

Das Albert’s ist der Nachfolger der Mokka-Milch-Eisbar. Von deren Interieur ist nicht viel übrig geblieben, schon gar nicht nach dem Brand im Februar 1996. Die elegante Treppe ist weg, die Decke abgehängt, der Tresen protzig, die Wände – wie überall - in Orangegelb eingewaschen, darüber hängt neben Ventilatoren ein kitschiger Kronleuchter.

Träger sommerlicher Samstagabend. Bei diesen Temperaturen inszeniert man sich draußen: Die Tische sind voll. Die Cocktail-Bar teilt sich das Gebäude mit „Eis-Hennig’s“ nebenan. Gemeinsam haben beide neben der Immobilie nur den Apostroph. Vor dem Albert’s sitzen junge Männer, die wie Zlatko aussehen und über SMS-Botschaften reden. Viele haben offenbar ein Verhältnis mit ihrem Handy. Sehen und gesehen werden, am liebsten mit Hörgerät.

Im weit unspektakuläreren Hennig’s verkehren eher die Leute, die früher in der Mokke saßen: Teenager, Familien mit Kindern, Studentenpärchen. Und Zlatkos, die noch auf Star-Erfolg warten. Rappelvoll ist es auch hier. Die Eisesser weichen nach nebenan aus. Die Mäuerchen und Bänke unter den Bäumen des Boulevards sind gut belegt.

Angesichts solcher Szenen bekommt man eine Ahnung davon, wie dieses Areal funktionieren könnte. Wenn beispielsweise der Pavillon neben Eis-Hennig’s genutzt würde. Derzeit steht er leer. Ein Schild mit der Aufschrift „Schnäppchenmarkt“ kündet von der vorletzten Stufe seines deprimierenden Abstiegs: Aus dem noblen Kunsthandwerk-Laden zu DDR-Zeiten wurde nach der Wende ein BMW-Autosalon, dann ein Küchenmarkt. Dem folgten die Schnäppchen und schließlich der Leerstand. Schlimmer kann es kaum noch kommen. Im letzten Sommer aber wurde der Pavillon kurzzeitig aus seinem Dornröschenschlaf geholt und erlebte heiße Nächte: Junge Leute hatten ihn angemietet und etablierten dort für ein paar Wochen den Club „Ibiza“, der überaus gut besucht war. An einem Abend feierten junge Ausstellungsmacher dort ihre Buchpremiere. Drinnen war es voll und stickig. Draußen luftig und lau. Schließlich saßen und standen die Leute draußen, und der Pavillon leuchtete.

Es ist die Generation der Dreißiger, die die Bauten der Moderne wieder entdeckt und erobert. Wie am Alexanderplatz im Haus des Lehrers, das nach jahrelangem Leerstand mittlerweile von jungen Medienunternehmen und Künstlern zwischengenutzt wird. Dabei ist die Zukunft des Hauses keineswegs geklärt. Aber spätestens, wenn man vom 12. Stock über die Stadt nach Westen blickt, den winzigen S-Bahnen zusieht, die sich Richtung Jannowitzbrücke schlängeln, und die kitschig-schönen Sonnenuntergänge bewundert, muss man dieses Haus schätzen lernen.

Die neue Friedrichstraße sollte nach der Wende die gebaute Antithese zur Karl-Marx-Allee werden: Eng rückgebaut, Geschäft an Büro an Geschäft, bar aller Freiräume: Selbst ein Park wurde planiert. Urban, gemütlich und privat sollte es sein. Arriviert-langweilig, klobig und privatisiert wurde es. Nun wird die Karl-Marx-Allee zur Antithese der neuen Friedrichstraße – und der längst als Touristennachtmeile definierten, eroberten Oranienburger Straße.

Die leeren Räume der Karl-Marx-Allee wecken Phantasien. Von einem Hamam, einem türkischen Bad zum Beispiel im Moskau. Inzwischen gab es auch ernsthafte Bemühungen von Interessenten, die das Café mit den kyrillischen Buchstaben an der Fassade gern wieder einer gastronomischen Nutzung zuführen würden. Aber das Café ist vermietet. Der Mieter lässt es leer stehen. Und die Treuhand Liegenschaftsgesellschaft (TLG) als Eigentümerin setzt offenbar auf Zeit: Solange der Vertrag läuft, wird sie nicht eingreifen. Immerhin, das Dach soll im Herbst repariert werden.

Viel zu groß, die technischen Anlagen veraltet, in dieser Form nicht nutzbar, heißt es aus der TLG. Wenn sie sich da nicht täuscht. Die Techno-Szene beispielsweise hat schon ganz andere Orte wieder zum Leben erweckt. Zugegeben: Es gibt vielleicht Netteres als eine Techno-Disco. Doch dem Moskau könnte Schlimmeres passieren: Abriss etwa, vor dem in Berlin auch der Denkmalschutz nicht schützt. Über die Techno-Fans hätte sich Architekt und Opernsänger Josef Kaiser wahrscheinlich gefreut. Über die Drohung, aus seinem Ensemble die „Linden des Ostens“ zu machen, bloß gelacht.