Das Dorf der Könner

Alle zehn Jahre hilft Oberammergau dem Wunder auf die Beine: 2.000 ortsansässige Darsteller, Pferde, Schafe und Ziegen mobilisierten seit Mai bereits lässig 360.000 Passionsspiel-Pilger

von SABINE LEUCHT

Sieht so ein Ort aus, an dem die Wunder sich von selbst einfinden? Oder brauchen sie zuweilen etwas Hilfe? Vom Südparkplatz her, wo die Touristenbusse ihren Inhalt auf die Straße spucken, bis er allmählich von Shuttlebussen aufgelesen wird, rufen Oberammergauer Kneipennamen Zauberer und Hexen an. Zwei schmucke Häuser zeigen die ganze Geschichte von Hänsel und Gretel oder Rotkäppchen ohne eine größere Spur simples Wandweiß dazwischen. Märchenhaftes Oberammergau. Unweit von München und fast hautnah am Garmisch-Partenkirchener Bergestrubel schmiegt es sich ins Voralpenland. Hergottsschnitzer und Lüftlmaler wohnen hier zwischen Hergottsschnitzerläden in bunten Häusern. Alles vielleicht zu schön und zu sauber, um 1633 von der Pest besucht zu werden. Dies war das Wunder Nummer 1. Es brachte die glücklich gesund gebliebenen Dörfler zu ihrem folgenschweren Eid, künftig alle zehn Jahre das Spiel von Leiden, Sterben und Auferstehung Jesu Christi aufzuführen.

So ergeht noch heute jeden zehnten Aschermittwoch ein Aufruf an fast die Hälfte der über 5.000 Einwohner: Schere und Rasierer sind fortan zu meiden, denn das Passionstheater wünscht sich sein Personal mit viel echtem Haar an Kopf und Kinn. Außerdem müssen alle Beteiligten in Oberammergau geboren oder seit mindestens 20 Jahren dort ansässig sein. Dasselbe gilt auch für alle mitwirkenden Pferde, Schafe, Ziegen und Tauben.

Nun läuft sie also, die Millenniumspassion. Und hat nach der Promi-Schar zur Eröffnung in ihrem mittlerweile dritten Monat bereits 360.000 nicht minder weit gereiste Glaubens- und Idyllenpilger angezogen. Kritiker hatten die Passionsspiele 2000 gleich nach der Premiere als Wunder (Nummer 2) ausgerufen, weil man allenfalls einen engagierten Glaubensbeweis erwartet hatte, dann aber ein Spiel sah, das ganz frei war von Bigotterie und sich plötzlich auch mit echter Kunst vereinbar zeigte.

Im Vorfeld noch hatte sich das alpenländische Überraschungsei vor allem als Fest der großen Zahlen präsentiert: Die Gemeinde Oberammergau steckte 20 Millionen Mark in die Sanierung des 4.750 Zuschauer fassenden Passionsspielhauses, in das erste neue Bühnenbild seit 70 Jahren, die ersten neuen Kostüme seit 100 Jahren und die nach 140 Jahren erstmals umfassende Bearbeitung von Text (Otto Huber) und Musik (Markus Zwink). Unter Spielleiter Christian Stückl spielen 156 Musiker im verdeckten Orchestergraben; 110 Sänger und fast 2.000 Darsteller sind auf der Bühne zu sehen, darunter – eine weitere Premiere – auch 7 Muslime. Alle 105 Vorstellungen zwischen 21. Mai und 8. Oktober waren ein Jahr im Voraus ausverkauft. Wer um den Premierentermin herum im Ausland war, hat vielleicht bemerkt, dass keine Nachricht aus der Heimat zu der Zeit höher hing.

Im eigenen Land nicht allzu bekannt, zieht Oberammergau alle Jahrzehnte wieder vor allem amerikanische Touristen an. Die tragen dann das Bild der Passion im Herzen, wenn sie an Deutschland denken. Dabei steht die Geschichte der Spiele, zu deren Bewunderern auch Hitler gehörte, auf keinem reinen Ruhmesblatt: Noch 1950 und ’60 spielte ein bekannter Nazi den Christus, der 1970 auch die Regie übernahm. Und der Text des Dorfpfarrers Joseph Alois Daisenberg sorgte mit seiner Betonung der jüdischen Gottesmörderrolle wiederholt für Kritik. In der aktuellen Fassung hat Jesus auch unter den jüdischen Priestern Fürsprecher gewonnen und sein Tod ist das Produkt eines ausgeklügelten Machtspiels zwischen Oberpriester Kaiphas, Herodes und Pontius Pilatus. Seine letzten Worte spricht der Jude Jesus auf Hebräisch, und von seinen Jüngern wird er Rabbi genannt – wenn auch beileibe nicht nur angehimmelt. Dieser neue ist ein streitbarer Jesus – wie er gleich zu Beginn das fröhliche Händlervolk aus dem Tempel jagt, da mag man ihn fast cholerisch finden. Und weil alle Opfer, die er fordert, zunächst einmal ihm selbst zugute kommen, kann man Zweifel an seiner Person recht gut verstehen. So gerät der Judas des Carsten Lück zu einer der faszinierendsten Figuren des sechsstündigen Theatermarathons, dessen halb so lange Mittagspause die Gastronomie des Dorfes gelassen bewältigt.

Auch wenn bei einigen der (Laien-)Darsteller der Dialekt unter dem Hochdeutsch des Textes noch arg rumpelt: Man muss Oberammergau als Dorf der Könner bezeichnen. Einige Akteure würde man auch im Hamburger Schauspielhaus nicht von der Bühne schicken; Ähnliches gilt für die teilweise grandiosen Gesangsstimmen des Chors, der sich immer wieder grafisch exakt formiert und aus dessen Mitte der Prologsprecher Szene für Szene ansagt. An jedem Szenenbeginn steht ein lebendes Bild aus dem Alten Testament, das den Spagat zwischen goldigem Nazarenerkitsch und Abstraktion mit Bravour erledigt und auch verrät, dass Spielleiter Stückl Holzbildhauer war, bevor ihn Dieter Dorn als Regisseur für die Münchner Kammerspiele entdeckte. Nichts gehorcht hier dem Zufall, kein Kind im Bild bewegt auch nur einen Finger.

Auch die wimmelbildartigen Gruppenszenen, wo bis zu sechshundert Menschen auf der breiten Vorbühne „Hosiana“ und später „Kreuzigt ihn!“ skandieren, behalten stets etwas Gemäldehaftes. Nicht zuletzt dank des 27-jährigen Stefan Hageneier, der bei Jürgen Rose und Robert Wilson das Bühnen- und Kostümbildnerhandwerk gelernt hat: Sandfarben leuchten Jerusalems Mauern unter dem im August endlich weißblauen bayerischen Himmel. Dazu passend knittert helles Leinen um die Körper der Masse, der Jünger und auch Jesus’ selbst. Die Priesterschar geht in strahlendem Weiß, in Braunorange oder Blau. Und wer mag, kann die Stunden allein damit füllen, die feinen Farbabstufungen und niemals gleichen Muster und Ornamente der aus Indien importierten Stoffe zu studieren. Wen Farben und Strukturen nicht interessieren, kommt aber auch auf seine Kosten. Beschwerden waren nicht zu hören. Nur machte sich in der Pause eine Dame Gedanken, ob die Buchung der Passion 2010 für sie noch lohnt. Wenige Festspielbesucher sind jünger als sechzig, und zumindest den Amerikanern scheint das Alter auch in den Knochen zu sitzen. Ein typischer Wortwechsel: „Do you have it in the knees?“ – „Oh, all over. But my knees are killing me.“ Oberammergau, das nächste Wunder bitte!