Die Aggression im Griff

Was an Schulen und in Kultusministerien erst diskutiert wird, ist an der Tübinger Hauptschule Innenstadt schon seit Jahren in der Erprobung: ein Konzept zur Gewaltprävention

von MARIANNE MÖSLE

Die Hauptschule Innenstadt in Tübingen. Ein neues Gebäude, mit viel Licht und freien Ecken, wo sich Schüler treffen oder auch zum Lernen zurückziehen können. Ein Cola-Automat wurde aufgestellt, im Spielzimmer spielen die Kinder Billard, Tischfußball oder harmlose Videospiele. Drei Mal pro Woche schallt durch die zentrale Lautsprecheranlage die Musik, die sich die Schüler ausgesucht haben. Eine Schule, wie sie sich Schüler nur wünschen können?

Nicht erst seit im Frühjahr in Meißen eine Lehrerin erstochen wurde und die Polizei Statistiken über gewalttätige Schüler führt, ist Gewaltprävention ein Thema an der Hauptschule Innenstadt. Einer Schule im sozialen Brennpunkt. Die rund 260 SchülerInnen, die in zehn Klassen und zwei internationalen Vorbereitungsklassen unterrichtet werden, stammen aus 21 Nationen. Zwanzig Prozent kommen aus Asylbewerberfamilien, fünfzehn Prozent sind Aussiedlerkinder. Viele Eltern sind arbeitslos oder unterliegen als Asylbewerber dem Arbeitsverbot. Trotz allem oder gerade deshalb hat sich die Schule in den vergangenen Jahren mit konsequenten Projekten und engagierten Lehrern zu einer Art Vorzeigeschule gemausert.

Was es hier auf gar keinen Fall gibt, sind Schlägereien mit Fäusten“, sagt der Achtklässler Andi, der seine Herkunft mit deutsch-russisch-armenisch angibt und nur so aussieht, als könne er kein Wässerchen trüben. Warum das so ist? Da lacht er verschmitzt: „Das darf man nicht. Außerdem sehen die sowieso alles.“ Die, das sind die Lehrer, die jeden ihrer Schüler mit Namen kennen.

Gleich zu Beginn des Gesprächs schiebt Rektor Fritz Sperth die Schulordnung über den Tisch. „Tue nichts, was einem anderen schadet oder wehtut, weder mit Worten, noch mit dem, was du tust“, steht da. Kleingedruckt darunter: „Wer gegen diese Regel handelt, muss sich sofort und unmittelbar mit seinem Fehler beschäftigen.“ Beschäftigen? Ja, sagt der Fünfzigjährige, so verbindlich, als handle es sich um eine Unternehmensberatung. Handfest wirkt er, locker und jung geblieben, trotz zerfurchter Stirn und hohem Haaransatz. Jede Art von Handgreiflichkeiten sei an dieser Schule verboten. Wer rumschubst, wird ermahnt. Schlägt ein Schüler vorsätzlich zu, wird er zur Rede gestellt, zum Gespräch ins Rektorenzimmer zitiert, wo gemeinsam nach Konfliktlösungen gesucht wird. Vater oder Mutter können noch am selben Tag hinzugezogen werden.

Im schlimmsten Fall droht der „Ausschluss aus der Gemeinschaft“. Das heißt, dass ein Schüler getrennt von seiner Klasse mit Arbeit versorgt wird – die höchste Sanktionsstufe, in den vergangenen drei Jahren einmal angewandt. „Die Schüler“, sagt Sperth, „müssen lernen, dass es andere Möglichkeiten gibt, mit Konflikten umzugehen.“

Aus einer Sonderauswertung der Kriminalstatistik in Baden-Württemberg geht hervor, dass 1999 3.900 Anzeigen bei der Polizei wegen Bedrohung, Nötigung, Erpressung, Raub, Sachbeschädigung, Körperverletzung oder Straftaten gegen das Leben oder die sexuelle Selbstbestimmung in Schulen eingingen. Oft wurden Waffen eingesetzt. Das sind dreißig Prozent mehr als 1997. Das Stuttgarter Kultusministerium gibt allerdings zu bedenken, dass wegen der erhöhten Sensibilisierung heute mehr Straftaten zur Anzeige kommen, die Statistik also durchaus täuschen kann.

Bei deiner Debatte im Landtag warnte deshalb die Kultusministerin Annette Schavan davor, Schulen prinzipiell als Hort der Gewalt einzustufen. Gleichzeitig räumte sie jedoch ein, dass Präventionsmaßnahmen an baden-württembergischen Schulen verstärkt vorangetrieben werden sollten. Was bedeutet, dass in Zukunft die Eltern mehr in die Pflicht genommen werden sollen, dass mehr Schulsozialarbeiter an Schulen eingesetzt werden und sämtliche erzieherische Institutionen wie Jugendamt oder Jugendhaus an einem Strang ziehen müssen. Vor zwei Jahren wurde eine Unterrichtsanleitung mit konkreten Konfliktlösungsstrategien erarbeitet.

Viele dieser vorbeugenden Maßnahmen wurden an der Tübinger Hauptschule schon vor Jahren umgesetzt. Rektor Sperth und seinen Kollegen geht der Ruf voraus, dass sie auf dem Schulhof alles im Blick haben. Prävention ist nicht die Abwesenheit von Autorität. Wenn ein Schüler etwa mit dem Abzeichen der Grauen Wölfe durchs Schulhaus spaziert, wird er zur Rede gestellt. „So, dass er es nicht mehr macht.“

Eigentlich, meint Sperth, genüge eine Frage, die das Programm umschreibe: „Wie geht’s dir?“ Zu einer Schule wie dieser gehöre die gegenseitige Zuwendung, Wertschätzung, aber auch uneingeschränkte Deutlichkeit. Seine Schüler will er nicht als Kumpel sehen, mit denen er verhandelt und schachert, sondern als Jugendliche, die ihn interessieren, die sich aber bitteschön auch für das interessieren sollen, was die Schule ihnen anbietet.

Nach dem Konzept einer „ganzheitlichen Erziehung“ soll an der Hauptschule Innenstadt nicht nur gelernt, sondern auch ein guter Teil des Lebens bewältigt werden. Rektor Sperth spricht von einer „Lebensschule“, die eine „Stärkung der Persönlichkeit“ zum Ziel hat. Dass ein Schüler im Schulradio beispielsweise eine Sendung moderiert und dabei über die Probleme seiner Familie an der Armutsgrenze spricht, ist nicht nur ungewöhnlich, das stärkt auch das Selbstbewusstsein. Oder dass Schüler bei einer Podiumsdiskussion mit Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin über Schule und Ausbildung von jungen Flüchtlingen debattieren. Nur wenn das Umfeld der Kinder bekannt sei, meint der Rektor, könnten sie bekommen, was es an sozialer Betreuung und geeignetem Unterrichtsstoff braucht. „Ein System, das nur fordert, muss sich nicht wundern, wenn Aggressivität entsteht.“

Die Kinder können gezielte Lernangebote wahrnehmen, Förderklassen werden eingerichtet, jeder Schüler der neunten Klasse wird einzeln bei der Suche nach einer Lehrstelle oder einer weiterführenden Schule begleitet. Zum Regelunterricht gehören unkonventionelle Angebote wie Clown- und Jonglagenummern bei den Fünft- und Sechstklässlern. In der siebten Klasse steigt ein Theaterprojekt, und in der Achten bearbeiten die Jugendlichen ein politisches Thema bis zur Podiumsdiskussion. Eine Schulband produziert jedes Jahr eine CD. Was für ein Schulalltag!

Nur Friede, Freude Eierkuchen? Nein, sagt Sperth. Es gibt auch Diebstahl, unbeherrschte Wutausbrüche, Verweigerungen, Provokationen. Oft wird dann die Sozialarbeiterin eingeschaltet. An zentraler Stelle im Haupthaus ist sie zu erreichen, wenn Probleme in der Schule, zu Hause oder im Freundeskreis gelöst werden müssen. Bei Mediationsgesprächen zwischen Schülern und Lehrer ist sie dabei, wenn ein Schulwechsel ansteht, wenn mit Jugendamt, Jugendhilfe oder Sozialamt Kontakt aufgenommen werden muss oder gar eine Therapie notwendig ist.

Die besten Erfahrungen hat Sperth mit der „Schularbeit“ gemacht. Dank einer Spende von fünfzigtausend Mark konnte er sie grundfinanzieren, mit Hilfe eines Fördervereins soll sie weiterlaufen. Schularbeit bedeutet, dass seine Schüler in der Schule oder in verschiedenen sozialen Einrichtungen des Stadtteils arbeiten und mit Putzen, Aufräumen oder Reparieren ein Taschengeld verdienen können. So können Kinder, denen unter normalen Umständen nur die Illegalität bleibt, um an die erträumten Markenturnschuhe zu kommen, sich diese selbständig und legal kaufen. Einen Diebstahl oder einen Schaden müssen sie mit dem selbstverdienten Geld abarbeiten.

„Wahrscheinlich sind wir eine strenge Schule, aber eine mit vielen Freiheiten und wenig Verboten innerhalb dieser Strenge“, überlegt Sperth, während wir vor dem Lehrerzimmer stehen und über das Treppengeländer runter zur Aula sehen. Dann zeigt er auf einen Boxsack, der an einem langen Seil mitten in die Arena hängt. „Hier kann jeder, der will, draufhauen und seine Aggressionen loswerden.“ Die entsprechenden Handschuhe dazu liegen sauber sortiert in einem Wäschekorb unterm Schreibtisch im Rektorenzimmer. Zugang haben alle, kein Raum ist verschlossen.

MARIANNE MÖSLE, 39, lebt als freie Journalistin in Tübingen