Ermunterung der Straße

Noch ehe der Rassismus das Denken und Fühlen der gewaltbereiten Akteure erreicht, steckt er in den Institutionen

„Gegebenenfalls Überprüfung nur durch einen Einzelrichter, am besten an Ort und Stelle, dann an Kopf und Kragen packen und raus damit.“

von EBERHARD SEIDEL

Deutschland wehrt sich. Gegen die Totschläger, gegen die Glatzen, gegen die Neonazis. Die Bürger bäumen sich auf. Gegen den Verdacht, der Schoß sei fruchtbar noch, gegen den drohenden internationalen Imageverlust. Und viele wissen, was wir brauchen:

Verschärfung der Strafen für Gewalttaten; räumlich begrenzte Demonstrationsverbote vor potenziellen Angriffsobjekten; Verbot neonazistischer Organisationen; eine Überwachung der Post und der Telefonate von Extremisten; wertorientierte Erziehung, politische Bildung und die Erarbeitung von Konzepten zur Eindämmung der Gewalt.

Geschichten, die sich wiederholen, werden zur Farce. Die Vorschläge stammen nicht aus dem Jahr 2000, sondern wurden von der regierenden CDU in den Jahren 1992 und 1993 entwickelt und zum „Sicherheitspaket 94“ geschnürt. Gebracht hat es nicht viel. Kein Wunder, denn Rassisten lassen sich durch das Strafrecht nur wenig beeindrucken, wenn sie gleichzeitig durch ehrenwerte Bürger wie den ehemaligen Berliner Innensenator Jörg Schönbohm (CDU) in ihrem Weltbild bestätigt werden. Dieser meinte schon vor zwei Jahren: „Die Zeit der Gastfreundschaft geht zu Ende.“

Politische Eliten sind Vorbilder. Sie können viel dazu beitragen, rassistischen Hass zu ermuntern oder aber zu blockieren. Beispiel Antisemitismus. 1949 war klar: Soll die Bundesrepublik wieder Teil der zivilisierten Welt werden, dann muss der nach wie vor starke Antisemitismus in die Privatsphäre zurückgedrängt werden. Ein wasserdichter politischer Konsens quer durch alle demokratischen Parteien errichtete Tabugrenzen, über die sich der virulente Antisemitismus nicht hinauswagen durfte. Das konnte die antisemitischen Straftaten zwar nicht gänzlich verhindern, dämmte sie aber ein und stellte sicher, dass sie in der Regel konsequent verfolgt wurden.

Eine vergleichbare politische Einigkeit in der Flüchtlings- und Einwanderungspolitik und der Wahrnehmung von Rassismus gibt es bis heute nicht. Die Folgen: Noch ehe der Rassismus das Denken, Fühlen und Handeln der Akteure auf der Straße erreicht, steckt er in den Institutionen, den Gesetzeswerken, in Lehrplänen und Erziehungssystemen. Rassismen gehören in Deutschland zum kleinen Einmaleins des politischen Handwerks.

Werden aus Brandsätzen Brandsätze, wie ein geflügeltes Wort der frühen Neunzigerjahre behauptete? Macht sich Innenminister Otto Schily mitschuldig, nur weil er einmal salopp dahinschwadroniert: „Die Belastbarkeit Deutschlands durch Zuwanderung ist überschritten?“ Ist der heutige Kanzler Gerhard Schröder bereits Rassist, weil er im Juli 1997 Bild im Vorübergehen diktierte: „Wer unser Gastrecht missbraucht, für den gibt es nur eins: raus, und zwar schnell.“? Der Gedanke ist furchtbar, weil er einem erbarmungslosen moralischen Imperativ folgt und das Menschenrecht auf Dummheit in Frage stellt. Deutschland wäre eine politisch reifere Gesellschaft, wenn Vergleichbares nicht mehr als geistige Brandstiftung gehandelt werden müsste, sondern als das, was es ist: töricht. Aber leider werden in diesem Land aus Brandsätzen tatsächlich sehr schnell Brandsätze.

Ausländer und Deutsche – das ist der Stoff, aus dem Tragödien entstehen. Seit über 20 Jahren ringen die Bürger mit dem Thema Einwanderung. Und seit 20 Jahren gibt es ein Wechselspiel zwischen Teilen der politischen Mitte, dem Alltagsrassismus der Bürger und dem militanten Rechtsextremismus. Bis Mitte der Siebzigerjahre konzentrierten sich die alten und die neuen Nazis auf ihre zentralen Agitationsfelder: den Antisemitismus und die Leugnung beziehungsweise Relativierung des Holocaust. Politisch war mit diesem Programm in der Bundesrepublik nicht mehr viel zu bewegen. Die Ideologie der extremen Rechten gewann an gesellschaftlichem Einfluss, als sie ihre Strategie änderte und ihr völkisch-nationalsozialistisches Standbein um das ausländerfeindliche Spielbein ergänzte. 1977 gründete zum Beispiel der inzwischen verstorbene Neonaziführer Michael Kühnen die „Aktion Ausländerrückführung – Volksbewegung gegen Überfremdung und Umweltzerstörung“.

Helmut Schmidt (SPD) und Helmut Kohl (CDU) erlagen den neonazistischen Einflüsterungen „Weniger Ausländer gleich weniger Arbeitslosigkeit“. Als sich zu Beginn der Achtzigerjahre die Zahl der Arbeitslosen der magischen 2-Millionen-Grenze näherte, eine dramatische Jugendarbeitslosigkeit drohte, die Betriebe in großem Stil rationalisierten und die Menschen um ihre Arbeitsplätze bangten, beschloss die SPD/FDP-Regierung im Juli 1982, die Rückkehr der Türken durch finanzielle Anreize zu fördern. Damit sollte „der schleichenden Landnahme durch eine fremde Bevölkerung“ entgegengewirkt werden, wie es der damalige Berliner Landesschulrat Herbert Bath (SPD) im November 1982 formulierte.

Das war keine Meinung eines politischen Außenseiters, sondern entsprach durchaus dem politischen Mainstream. So kommentierte der liberale Berliner Tagesspiegel bereits im November 1980 unter der Überschrift: „Mehr Wohnungen, weniger Türken“: „Berlin muss vor einer mathematischen Überfremdung durch Familienzusammenführung bei hoher Fruchtbarkeit bewahrt bleiben.“

In den Achtzigerjahren wurde das Thema Einwanderung von der politischen Mitte vor allem als Türkenproblem verhandelt. Helmut Kohl führte die von Helmut Schmidt begonnene Politik fort und setzte in seiner ersten Regierungserklärung vom 13. Oktober 1982 zwei Schwerpunkte: die Bewältigung der Arbeitslosigkeit und die Ausländerpolitik. Was darunter zu verstehen war, präzisierte sein Mann fürs Grobe, der damalige Innenminister Friedrich Zimmermann (CSU): „Ein konfliktfreies Zusammenleben wird nur möglich sein, wenn die Zahl der Ausländer bei uns begrenzt und langfristig vermindert wird, was vor allem die großen Volksgruppen (Türken) betrifft“, schrieb er im Mai 1983 in der Zeitschrift Das Parlament.

Die Straße hörte die Botschaft. Die Folgen waren verheerend. 1984 reimte die Bremer Fascho-Skinheadband „Endstufe“ in einem Song: „Wenn ihr euch nicht anpasst, dann werdet ihr erleben / Dann wird es in Deutschland immer Naziterror geben.“ Und: „Die deutsche Kultur muss höher liegen / Und abends könnt ihr erst mal eure Gräber pflegen.“

Den Drohungen folgten Taten. 1985 wurden in Hamburg Mehmed Kaynakci und Ramazan Avci von Nazi-Skinheads erschlagen. Es war der Beginn des rassistischen Terrors gegen Türken, der am 17. Dezember 1988 in einem Brandanschlag in Schwandorf auf ein überwiegend von Türken bewohntes Haus einen vorläufigen Höhepunkt fand. Vier Menschen starben.

Die politischen Eliten der alten Bundesrepublik ignorierten diese Entwicklung. Erst Jahre später, als in den neuen Bundesländern der völkische Mob aufdrehte, lernten sie das Wort RASSISMUS buchstabieren. Dies fiel nun leicht, da man einen Sündenbock hatte, auf den man alle Verantwortung abladen konnte: die untergegangene DDR mit ihrem verordneten Antifaschismus und ihrer autoritären Erziehung.

Aber Ehre, wem Ehre gebührt. Es war nicht die DDR-Führung, sondern die politische Mitte Westdeutschlands, die in den Achtzigerjahren den Alltagsrassismus neu legitimierte. Sie schleifte die Wälle, die gegen den Rassismus in seiner spezifischen Ausformung als Antisemitismus errichtet waren. Sie ethnisierte soziale Konflikte, sie verweigerte Millionen von Einwanderern die Anerkennung als gleichberechtigte Bürger.

Der antizivilisatorischen Enthemmung der Achtzigerjahre folgte das Drama der Neunzigerjahre. Zwischen 1990 und 1992 verachtfachte sich die Zahl der rechtsextremistischen Gewalttaten von 306 auf 2.584. 1.719 dieser Delikte wurden im Westen registriert. Erneut beflügelten ehrenwerte Politiker den Zorn der Straße, die sich als Vollstrecker des Volkswillens fühlen durfte. Diesmal waren das gemeinsame Ziel nicht die Türken, sondern es war die Einschränkung des Grundrechts auf Asyl.

Allzu lange wurden die Tatsachen geleugnet. So behauptete der sächsische Ministerpräsident Kurt Biedenkopf (CDU) noch im Juni 1991, als die Gewaltwelle bereits durch das Land schwappte, es gebe keine rechtsradikale Gefahr. Und Bild startete im September 1991, wenige Tage vor dem Pogrom in Hoyerswerda, eine „brandaktuelle Serie“` unter dem Titel „Asylanten in Deutschland – wer soll das bezahlen?“ Union und SPD lieferten sich ein Wettrennen nach rechts: „Die Lage ist chaotisch und fast aussichtslos. Der Münchner Süden muss ab sofort zur asylantenfreien Zone erklärt werden“, meinte 1992 der CSU-Politiker Erich Riedl. Auch der damalige SPD-Fraktionsvorsitzende in NRW, Friedhelm Farthmann, ließ die letzten rechtsstaatlichen Hemmungen fallen und schlug zum Umgang mit Flüchtlingen vor: „Gegebenenfalls Überprüfung nur durch einen Einzelrichter, am besten an Ort und Stelle, dann an Kopf und Kragen packen und raus damit.“

Die Opfer rassistischer Gewalt kommen aus den Gruppen, auf die sich der Diskurs der Mitte konzentriert. Waren in den Achtzigerjahren vor allem die Türken das Anschlagsziel, sind es nun verstärkt Schwarze und Asylsuchende.

Nachdem die SPD im September 1992 dem so genannten Asylkompromiss zugestimmt hatte, besann sich das Land. Lichterketten der Bürger, Appelle von Politikern, die Berichterstattung in den Medien signalisierten nun: Es ist genug! Die Einigkeit zeitigte Wirkung: In den Jahren danach sank die Zahl der Übergriffe auf ein Viertel des 92er-Niveaus.

Die Besinnung der politischen Mitte währte nur wenige Jahre. Spätestens 1998 war es mit der vornehmen Zurückhaltung vorbei. Mit der Diskussion um die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts kamen die Schönbohms, Kochs, Rüttgers und Schilys aus der Deckung. Und das Zentralorgan des aufgeklärten Journalismus, Der Spiegel, beschwörte bereits im April 1997 mit seinem Titel „Gefährlich fremd“ ein Bürgerkriegsszenario zwischen Einwanderern und Teutonen herauf. Der Text unterschied sich im Duktus nur wenig von Botschaften der neurechten Postille Junge Freiheit, hatte aber nichts mit den Realitäten in Berlin-Neukölln oder Berlin-Kreuzberg zu tun. Zahlreiche andere Zeitungen zogen nach und lieferten ihre Frontberichte aus den angeblichen multikulturellen Nahkampfzonen der Republik. Die dritte Runde der Ermunterung der Straße war eingeläutet.

Es ist also noch nicht entschieden, ob die politischen und journalistischen Eliten aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt haben. Noch ist offen, ob die Union zur Bundestagswahl 2002 der Versuchung widersteht und auf rassistische Slogans zur Mobilisierung ihrer Wählerschaft verzichtet. Noch hat die rot-grüne Regierung nicht bewiesen, dass sie tatsächlich ein zivilisiertes gesellschaftliches Klima gegenüber Einwanderern und Flüchtlingen auf Dauer herstellen und eine Politik ihrer Anerkennung durchsetzen kann.

Auch wenn das Bemühen der Medien, dem Rechtsextremismus journalistisch entgegenzutreten, anderes nahe legt – die Zeichen stehen auf Sturm. Wenn der hessische Ministerpräsident Roland Koch (CDU) beklagt, dem Thema Rechtsextremismus werde zu viel Aufmerksamkeit geschenkt, kann das nur eines bedeuten: Koch denkt nicht daran, sich einem Bündnis anzuschließen, das sich verpflichtet, auf Rechtspopulismus zu verzichten. Das ist verständlich. Schließlich verdankt Koch seine politische Macht einer Kampagne gegen die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts.

Die Herausforderung ist groß. Scheitert die Gesellschaft erneut an dem Versuch, Rassismus als Mittel der politischen Auseinandersetzung und der Auflagensteigerung zu ächten, und fehlt ihr die Kraft, sich zur Einwanderung zu bekennen, dann muss sie auch in nächster Zukunft mit dem Vorwurf leben, in ihrer Mitte ein Stück Barbarei zu hegen und zu pflegen.

Vom Autor sind folgende Bücher zum Thema erschienen: „Die Scharfmacher. Schauplatz innere Sicherheit“ (gemeinsam mit Klaus Farin), Hamburg 1994; „Unsere Türken. Annäherung an ein gespaltenes Verhältnis“, Berlin 1995.