Sportlicher Müll der Einheit

Ein Verein kümmert sich um jene Menschen, für die sich sonst niemand zuständig fühlt: Die Opfer des Dopingssystems in der DDR. Jetzt verleiht die Organisation erstmals den Heidi-Krieger-Preis

von FRANK KETTERER

Menschen wie Jutta Gottschalk sind Opfer. Die blonde Frau hat nicht gewusst, was man ihr antat, damals, als man ihr 13-Jährig all die blauen und roten Pillen verabreicht hat beim Schwimmtraining in Magdeburg. Sie hat nicht gewusst, dass es sich dabei um Anabolika handelte, um Hormondoping, und sie hat lange Zeit nichts davon geahnt, dass auch das Augenleiden ihrer Tochter Corina mit großer Wahrscheinlichkeit von all den Pillen herrührt, die man ihr in kleinen Becherchen am Beckenrand zur Einnahme bereit gestellt hat. Corina kam auf dem rechten Auge mit Grünem und Grauen Star zur Welt, heute, nach elf Operationen, ist die Sechsjährige auf dem rechten Auge zu 95 Prozent blind. Auch Corina ist ein Opfer des Staatsdopingbetriebs DDR.

Es sind Menschen wie Jutta Gottschalk und ihre Tochter, denen sich der Verein für Doping-Opfer-Hilfe annimmt. Auf „einige 100 ehemalige Sportler“, meist aus der zweiten und dritten Reihe, schätzt der Weinheimer Sportmediziner Klaus Zöllig, Vorsitzender des Vereins, die Zahl jener, die „aus Zwang und zum Teil ohne ihr Wissen manipuliert“ und somit zu dem wurden, was man heute Doping-Opfer nennt. „Vielen von ihnen ist gar nicht bewusst, dass sie unter Spätfolgen leiden, die auf Doping zurückzuführen sind“, sagt der Mediziner. „Wenn einem Gewichtheber Brüste wachsen“, so Zöllig, sei die Sache ziemlich eindeutig. „Wenn einer nach 10 oder 15 Jahren aber plötzlich an der Leber erkrankt, sieht man den Zusammenhang nicht mehr so sehr.“

Zumal die Liste der Spätschäden lang und vielfältig ist – von Akne über Stimmvertiefung bei Frauen bis hin zu Regelstörungen, Skelettverformungen, Schwangerschaftsstörungen, Erkrankungen der Sexualorgane, Unfruchtbarkeit und Fehlbildungen bei den Kindern der Sportler reicht. In all solchen Fällen bietet der vor gut einem Jahr in Leipzig gegründete Verein Hilfe an. Hilfe, die ebenso vielfältig wie einzigartig ist, weil niemand sonst sich zuständig fühlt für die Hinterbliebenen des DDR-Sport-Systems.

„Das Thema“, sagt Zöllig, „interessiert niemand.“ Den Staat DDR gibt es nicht mehr, sein Sportverband hat sich aufgelöst. „Juristisch gesehen fühlt sich niemand als Nachfolgeorganisation zuständig“, klagt der Sportarzt, bevor er drastischere Worte wählt: „Diese Menschen sind der sportliche Müll der Wiedervereinigung.“ Auf Halde geschoben von Staat und Verbänden, allein gelassen von Gott und der Welt. Wie allein, war selbst bei der Gründungsfeier des Doping-Opfer-Vereins vor gut einem Jahr in Leipzig zu sehen: Weder Deutscher Sportbund (DSB) noch Nationales Olympisches Komitee (NOK) erachteten es für angebracht, einen Offiziellen nach Leipzig zu entsenden. In einem Interview erklärte NOK-Präsident Walther Tröger damals, dass Hilfe für Doping-Opfer Sache jedes Einzelnen sei, Privatsache quasi. „Bis auf den heutigen Tag“, weiß Zöllig, „gibt es kein Doping-Opfer, das konkrete Unterstützung von DSB oder NOK erhalten hätte“, geschweige denn von staatlicher Stelle. Mittlerweile haben wenigstens Gespräche mit Verbänden stattgefunden, und der DSB beispielsweise will künftig potenzielle Opfer an die Privatinitiative weiterleiten.

Wie überhaupt die Arbeit des Doping-Opfer-Vereins, dem neben Zöllig auch Dieter Baumanns Anwalt Michael Lehner vorsteht, immer größere Anerkennung und Akzeptanz erfährt, auch weil das bisherige Tabuthema durch die Berliner Doping-Prozesse öffentlich geworden ist. „Es kommen immer mehr Anfragen“, berichtet Zöllig, rund 50 waren es bisher, in 38 Fällen kam es zu konkreter finanzieller Hilfe seitens des Vereins. Diese ist fast so vielfältig wie die Schäden, unter denen die Opfer leiden. Mal geht es um plastische chirurgische Eingriffe bei Gynäkomastie (Brustbildung bei Männern), mal darum, Unfruchtbarkeit medizinisch zu beheben. Auch Ausbildung und Umschulung wurden schon finanziert, weil die Betroffenen durch ihre Leiden ihren ursprünglichen Beruf nicht mehr ausüben konnten. Für Jutta Gottschalk zum Beispiel übernimmt der Verein teilweise die Kosten für die Betreuung von Corina, damit die Mutter tagsüber arbeiten gehen kann. Außerdem finanziert er ein Gutachten, das derzeit an der Uniklinik Köln erstellt wird und den wissenschaftlichen Beweis liefern soll, dass die Blindheit der Tochter vom Doping herrührt. Angedacht sind zudem Vortragsreihen in Schulen und Sportvereinen, die vor Doping und seine Folgenschäden warnen, Prophylaxe ist dem Verein ein großes Anliegen.

Bis zu 1.000 Mark kann das Vorstandsgremium des Vereins als Soforthilfe gewähren, über die Bewilligung finanziell größerer oder längerfristiger Unterstützung entscheidet ein Beirat, dem unter anderem der Zellbiologe Prof. Jens Reich, der Leiter des Doping-Kontroll-Labors in Kreischa, Prof. Klaus Müller, und der Schwimmer Chris-Carol Bremer angehören. Dem Verein verbunden fühlt sich auch Andreas Krieger. Andreas hieß früher Heidi und war vor seiner Geschlechtsumwandlung Europameisterin im Kugelstoßen. Die Medaille, die er 1986 in Stuttgart, damals noch als Frau und mit androgenen, also vermännlichenden Hormonen vollgepumpt, gewann, hat er dem Verein gestiftet, der daraus einen Ehrenpreis hat kreieren lassen, der künftig alljährlich an Persönlichkeiten verliehen werden soll, die sich besonders engagiert gegen Doping im Spitzensport einsetzen.

Am Donnerstag wird der Münchner Professor Christan Strasburger für die Entwicklung einer zuverlässigen Nachweismethode für künstlich hergestellte Wachstumshormone ausgezeichnet. Er bekommt den ersten Preis, der den Namen eines Doping-Opfers trägt: Heidi-Krieger-Preis.