IN MOSKAU VERBRENNT DAS HÖCHSTE GEBÄUDE DER WELT
: Schwindel erregende Symbolik

Seit dem Zusammenbruch des Kommunismus ist der August der Schicksalsmonat Russlands. Kaum lehnt sich das Land einen kurzen Sommer zurück, schon wird es von Katastrophen heimgesucht – von Putsch, Rubelkrise, Kaukasuskrieg oder dem Untergang eines atomgetriebenen U-Boots. Nun steht auch noch der Fernsehturm „Ostankino“ in Flammen. Kein Wunder, wenn die irrationalen Erklärungen zugänglichen Russen hinter der Kette von Tragödien das Menetekel eines höheren Willens vermuten. In westlichen Gesellschaften – mit ihrem obsessiven Sicherheitsdenken – wäre längst fatalistische Endzeitstimmung ausgebrochen. Indes, hätte es dort jemals so weit kommen können? Noch ist die Brandursache nicht geklärt. Höhere Gewalt, Zufall oder gar ein Terrorakt?

Die Russen waren nicht nur stolz auf Ostankino, den höchsten Turm der Welt. Gebaut in einer Zeit, als die UdSSR noch daran glaubte, die USA ein- und überholen zu können, war das Gebäude eines der letzten Symbole der russischen Weltmachtgeltung. Nun reißen die Trossen, der Turm droht in sich zusammenzustürzen. Eine Schwindel erregende Symbolik, fürwahr. Sie verleitet aber auch dazu, die Ereignisse überzuinterpretieren. Kein Zweifel besteht indes daran, dass die Schicksalsschläge die Diskussion im Lande beschleunigen werden, welchen Anspruch Moskau sich zukünftig noch erlauben sollte. Mit der „Kursk“ und Ostankino verschwinden auch Relikte der Vergangenheit, die den unverzerrten Blick auf die Gegenwart verstellten.

Wie schon in der Barentssee offenbarte die neue Havarie die Inkompetenz der Verantwortlichen. Landesübliche Schlamperei und mangelndes Sicherheitsbewusstsein dürften – durch Finanzprobleme verschärft – die Brandursachen sein. Am Ende fehlte womöglich die entscheidende (ausgeliehene) Technik, um das Feuer zu bekämpfen. Ein Muster, das sich immer wiederholt und jedes kalkulierbare Risiko zur Katastrophe werden lässt.

Ostankino und „Kursk“ haben dem Kreml schmerzlich vor Augen geführt, dass sich die innere Schwäche des Staates nicht durch Trommeln in der internationalen Arena übertönen lässt. Das Problem liegt im Denken, das mit Wladimir Putin wieder Einzug im Kreml gehalten hat. Ein überholtes Problembewusstsein, repräsentiert von Betonköpfen der alten Sicherheitsstrukturen, die glauben, durch Gewalt nach innen und Gleichschaltung dem Lande Sicherheit geben zu können. Ihr Verständnis von Sicherheit bedeutet Eindämmung eines Prestigeverlusts. Ihn fürchten sie mehr als die Sünde verschenkter Menschenleben.

KLAUS-HELGE DONATH