Der Wille zur Unschärfe

HALBZEIT FÜR DEUTSCHLAND (5): Nach zwei Jahren in der Regierung sind die Grünen profillos geworden. Auch der Kampf gegen rechts wird dies nicht kompensieren

Eine unter Schmerzen, Konflikten und Austritten geführte Debatte um ein neues Grundsatz-Programm steht an

Der Außenminister philosophiert aus der Toskana über Nation und Kultur, derweil sich die hessische MdB Wolf eisern über eine Berufung als Staatssekretärin ins Wirtschaftsministerium ausschweigt. Die grüne Parteivorsitzende behält als einzige Politikerin in der Rechtsextremismusdebatte kühlen Kopf, während sich ihr männliches Gegenstück an Tankstellen bei Automobilisten lieb Kind macht. Die Grünen haben teil am Glück der Regierung Schröder – und sich zu Tode gesiegt. Dabei geht es nicht mehr darum, den tief greifenden Wandel von einer Protestpartei, die dareinst den sozialökologischen Umbau kapitalistischer Industriegesellschaften anstrebte, zu einer Reformpartei mit Augenmaß zu beklagen. Dieser Prozess ist – mit allen Konsequenzen – längst abgeschlossen.

Derzeit geht es nur noch um die Frage, ob die Partei eben diesem Anspruch genügen kann. Dem kommt der Umstand, dass der Begriff der Reform selbst schillert, nicht eben entgegen. Im Unterschied zum Begriff „Revolution“, der allen totalitarismustheoretischen Behauptungen und faschistischen Selbstbeschreibungen zum Trotz eindeutig in einer linken Tradition steht, steht die „Reform“ für beliebige Strukturveränderungen, sofern sie nur langsam, schrittweise und gewaltfrei vollzogen werden. So ist es im alltäglichen politischen Betrieb möglich, jede Entschließung, jedes Gesetz und jede Rede als Schritt in einem Reformprozess zu beschreiben, womit der Begriff aber für die Bewertung und Unterscheidung von Politiken wertlos wird, da er auf alles zutreffen kann.

In derartigen Situationen empfiehlt es sich für den konturenlos gewordenen Betrieb, unter Verzicht auf den Anspruch auf „Reform“ Ziele zu benennen und es dem Publikum zu ermöglichen, sich selbst ein Bild davon zu machen, was man leisten will. Die Politik der Grünen-Bundespartei fällt derzeit dadurch auf, dass eben dies in zentralen Politikfeldern unmöglich erscheint:

– Mit dem Konsens über die Restlaufzeiten von Atomkraftwerken, bei dem – unbeschadet der noch schlechteren Regelungen in anderen Staaten – nur festgeschrieben wurde, was den ökonomischen Interessen der Betreiber entsprach, ist das zentrale Politikmotiv der Partei in der Sache erfolglos, symbolisch nicht eben beeindruckend, ein für allemal entsorgt worden.

– Der Kanzler wusste, warum er den Grünen das Gesundheitsministerium überlassen hat, dessen zentrales Reformvorhaben, die Qualität der medizinischen Versorgung mindestens zu erhalten und gleichzeitig die Kosten zu senken, grundsätzlich unlösbar ist. Auf diesem Feld muss es bereits als Erfolg gelten, überhaupt weiter mitspielen zu dürfen, womit sich das Gesundheitsministerium als treffendstes Gleichnis grüner Regierungsbeteiligung überhaupt erweist.

– So verbleibt als letztes der Einsatz für Grund- und Menschenrechte, wofür die Partei zu Recht bereit war, ihre in Jahren gewachsenen pazifistischen Überzeugungen preiszugeben. Freilich ist das moralische Kapital, das über die Beteiligung am Kosovo-Krieg erzielt wurde, durch das Schweigen des Westens und Deutschlands im Falle Tschetscheniens längst aufgebraucht. Bei allem Verständnis für die Härten der Weltpolitik und die ach so ungeheuere Last der Verantworung: Das Ausmaß an Mord und Totschlag, an Unrecht und Gewalt, das die russische Föderation unter ihrem Autokraten Putin verübte, übertrifft alle serbischen Grausamkeiten gegen die Kosovo-Albaner.

Doch soll es gar nicht um Moral gehen, sondern nur um die Frage nach dem Profil grüner Politik. Gab es da nicht einmal einen Menschenrechtsbeauftragten? Wenn überhaupt, wirkt er unter Ausschluss der Öffentlichkeit! Warum wirkt die Partei bei der Immigrationspolitik, jenem Thema, für das ihr lange Zeit neben der Ökologie die größte Kompetenz zugeschrieben werden durfte, so verhalten, ja ängstlich? Wirkt hier immer noch der Schock über die verlorene Hessenwahl nach? Gewiss lassen sich jederzeit halblaut gehaltene Reden, salvatorische Erklärungen und Grundsatzbeschlüsse hervorziehen, die Prinzipienfestigkeit bei den AKWs, unverbrüchliche Kompromisslosigkeit in der Menschenrechts- sowie Kreativität und Mut in der Einwanderungspolitik belegen. Nur: Solange die Öffentlichkeit diese Belege nicht mit dem tagtäglichen Politikvollzug verbindet, wiegen sie nicht mehr als Aktenvermerke.

So bleibt – mehr als ein Jahr nach Bielefeld – festzuhalten, dass nicht nur das grüne Projekt gescheitert, sondern auch die als Hülle überlebende Partei profillos geworden ist. Der zugleich entschiedene und in liberalem Sinn geführte Kampf gegen den Rechtsextremismus wird diese Unschärfe auf Dauer nicht kompensieren. Aus dieser Lähmung wird nur hinausführen, was sich als grünes Godesberg bezeichnen ließe – eine unter Schmerzen, Konflikten und Austritten geführte Debatte, die schließlich in ein neues Grundsatzprogramm mündet.

Es ist bekannt, dass Programmdebatten oft genug nur der Selbstbeschäftigung von Funktionären dienen. Für die Grünen jedoch geht es diesmal wirklich um mehr. Das Bedenklichste an der gegenwärtigen Situation der Partei ist womöglich gar nicht der amtsgebundene Opportunismus ihrer Amts- und Mandatsträger, sondern die Unfähigkeit, wohl auch der Unwille, sich Rechenschaft darüber abzulegen, wer sie ist und was sie künftig will. Des Dichters Rainer Maria Rilke Gedichtzeile „Was heißt hier siegen, übersteh’n ist alles“ mag für Individuen in Zeiten der Katastrophen sinnvoll sein – als Devise einer politischen Partei wirkt sie selbstzerstörerisch. Zehrt sie doch die letzten Motivationspolster mindestens einer Basis aus, die an Ständen überzeugen, Plakate kleben, Bekenntnisse ablegen und Stolz oder doch mindestens Selbstachtung für die eigene politische Heimat bezeugen soll.

Es geht nicht mehr darum, den Wandel von einer Protest- zu einer Reformpartei mit Augenmaß zu beklagen

Die Frage eines neuen Grundsatzprogramms ist jahrelang zwischen den lahm gewordenen Parteiflügeln strategisch behandelt worden – einzig zu dem Zweck, der anderen Seite keinen Erfolg zu gönnen. Parlamentarier, Partei und Regierungspersonal sollten indes wahrnehmen, dass dieses Motiv entfallen ist, ein neues Programm jedoch zur Existenzfrage der Grünen geworden ist. Denn – Allensbach hin, Gerhard, Joschka und Hans im Glück her – irgendwann sind wieder einmal Wahlen.

In dieser Perspektive erweist sich ein Nichtereignis, die nicht geführte Programmdebatte, denn doch als äußerst aufschlussreich. Wird daran doch klar, dass mindestens das führende Personal der Partei an dieser selbst kein Interesse mehr hat und nur noch am persönlichen Überleben im Betrieb hängt – menschlich verständlich, aber politisch verheerend.

Die Unfähigkeit, ja der Unwille, sich zumindest zu dem zu bekennen, was man über die Jahre geworden ist und auf dieser Basis einen neuen Anfang zu setzen, signalisiert nur noch das Eingeständnis, nicht mehr sagen zu können, warum man gewählt werden will. Diese Botschaft wird – im Unterschied zu vielen anderen – nicht ungehört verhallen. MICHA BRUMLIK