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SOZIALREPORT: OSTDEUTSCHE FÜHLEN SICH FREMD IN DER BUNDESREPUBLIKDer Ostler als Ausländer

Am Schluss der Pressekonferenz kam die typische Wessifrage: Der ostdeutsche Sozialforscher solle doch jetzt mal eine klare Antwort geben auf die Frage, ob es dem Osten heute besser oder schlechter gehe als noch vor ein paar Jahren. Daumen hoch oder Daumen runter! Sozialexperte Gunnar Winkler verweigerte die gewünschte Antwort: Es gebe im Osten „eine zunehmend positive Bewertung“ der Lebenslagen, „die aber zunehmend kritischer“ werde. Er erntete Gelächter.

Der Dialog sagte einiges aus über das West-Ost-Verhältnis: Es besteht weniger aus Tatsachen denn aus Projektionen. Und das ist das Interessante daran. Projektionen bestimmen das Verhältnis des Ostens zum Westen – und umgekehrt. Und sie bestimmen auch das Verhältnis von Ostdeutschen zu Ausländern. Dies belegt einmal mehr der jüngste Sozialreport aus den fünf neuen Ländern.

Etwa zwei Drittel der Ostdeutschen fühlen sich fremd in der Bundesrepublik, ergab die Befragung. Das Vertrauen der Ostdeutschen in die Bundesregierung ist in den vergangenen Jahren gesunken. Fast zwei Drittel der Befragten im Osten befürchteten einen künftigen weiteren Verlust von sozialer Sicherheit. Gleichzeitig meinen 45 Prozent der Ostdeutschen, dass in Deutschland zu viele Ausländer leben. 37 Prozent glauben, die Ausländer verschärften die sozialen Probleme. Aus eigener Anschauung können sie das kaum wissen: Im Osten sind nur 1 bis 2 Prozent der Bevölkerung Ausländer. Offensichtlich liegen den ostdeutschen Ängsten Trugbilder zugrunde.

Die Nachrichtenagentur dpa dichtete gestern den denkwürdigen Satz: „Im zehnten Jahr der deutschen Einheit fühlen sich die meisten Ostdeutschen noch nicht als richtige Bundesbürger und lehnen Ausländer nach wie vor überwiegend ab.“ Wer also ist der Fremde? Die übliche Schlussfolgerung, die Ausländer dienten nur als Sündenböcke für Ostdeutsche, befriedigt zwar den Westen, greift aber genau deswegen zu kurz. Denn schließlich, so erklärten die an der Studie beteiligten Sozialforscher, bestehe auch für viele Westdeutsche „die Messlatte für den Osten darin, dass die Ostdeutschen immer noch nicht so sind wie ‚wir‘ (die Westdeutschen)“.

Die Sozialforscher – übrigens zur Hälfte Ostdeutsche – beklagen im Report die Verlierer/Versager-Projektionen des Westens auf den Osten: Nicht zuletzt wirke die ständige Betonung des notwendigen Zurückbleibens, der finanziellen Abhängigkeit auf das „Ostbewusstsein“ und erzeuge es geradezu. Der Westen projiziert auf den Osten, der Osten auf die Ausländer – und so kommt jeder zu seinem Fremden. Auch wenn niemand genau weiß, wer denn nun der Fremde ist. BARBARA DRIBBUSCH

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