Deutsche Verdrängungskünste

Im Beisein von Kanzler Schröder wird morgen der 50. Jahrestag der Charta der deutschen Heimatvertriebenen gefeiert – ein Lehrstück tabuisierter Nationalgeschichte

Die Charta kappt den Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung, exkulpiert die Verantwortlichen

Das alljährliche Treffen der Vertriebenen, der „Tag der Heimat“, diesmal am 3. September in Berlin, wird unter vier Vorzeichen stehen: unter der Leitung der neuen Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, Erika Steinbach, einer Eröffnungsrede des Kanzlers Schröder, den Planungen eines „Zentrums der Vertreibung“ und – im Zeichen des 50. Jahrestages der Charta der deutschen Heimatvertriebenen.

Diese am 5. August 1950 in Bad Cannstatt bei Stuttgart proklamierte Urkunde ist nie anders apostrophiert worden denn als „Zeugnis politischer Vernunft“, „moralischer Größe“ und „historischer Bedeutung“. Nur – wer das Dokument so bewertet, kann es nicht kennen. Deshalb die eindringliche Frage: Hat Gerhard Schröder die Charta gelesen, bevor er an ihrem Jubiläumstag ans Rednerpult treten wird?

Damals, Sommer 1950, waren seit dem Untergang des nationalsozialistischen Deutschlands gerade einmal fünf Jahre vergangen – das vom Krieg der Waffen zertrümmerte Europa und die Schädelstätten des Vernichtungskrieges rauchten noch. Aber wer im Text nach den Urhebern der Apokalypse sucht, nach Namen wie Adolf Hitler oder Auschwitz, nach der Vorgeschichte der Vertreibung, den durch die deutsche Angriffsmaschine ausgelösten Völkerwanderungen zwischen Wolga und Atlantik, überhaupt nach dem kleinsten Hinweis auf Verbrechen unter der Hakenkreuzokkupation, der fahndet vergebens. So vergebens wie nach den Jubelorgien beim Einmarsch deutscher Truppen erst in das Sudetenland und dann in die zerschlagene Resttschechoslowakei 1938/39.

Die Charta der deutschen Heimatvertriebenen ist ein Lehrstück tabuisierter Nationalgeschichte.

Wen wundert es da, dass eine Gruppe in der Schrift nicht auftaucht – die Vertriebenen der ersten Stunde. Ich spreche von den Tausenden und Abertausenden irrtümlicherweise stets „Emigranten“ genannten Deutschen, Nichtjuden und Juden, die nach dem 30. Januar 1933 aus allzu berechtigter Furcht um Leib und Leben, also höchst unfreiwillig, Deutschland verließen. Bezeichnenderweise sind die Verfasser der als „bedeutendstes Dokument der Nachkriegszeit“ und „Grundgesetz der Heimatvertriebenen“ kommentierten Charta von dem Gedanken an diese Heimatvertriebenen offensichtlich nie angeflogen worden.

Stattdessen dieser Satz: „Die Völker der Welt sollen ihre Mitverantwortung am Schicksal der Heimatvertriebenen als der vom Leid der Zeit am schwersten Betroffenen empfinden.“ Der einzige Superlativ besteht in der Beschwörung deutschen Schicksals. Hier öffnet sich ein erschütterndes Charakteristikum der Charta – die totale innere Beziehungslosigkeit zur Welt der NS-Opfer, die unverbergbare Ferne zu fremdem Leid.

Aber es kommt noch deutlicher – mit jenem Satz, der der Meistzitierte aus der Charta ist, sozusagen das Zentrum ihres ethischen Anspruchs, in Wahrheit jedoch eine Anmaßung sondergleichen: „Wir Heimatvertriebenen verzichten auf Rache und Vergeltung.“ Da darf doch wohl gefragt werden: Wem gegenüber denn? Etwa der polnischen Bevölkerung, die ein Sechstel ihres Bestandes während der deutschen Besetzung verloren hat, darunter an die drei Millionen Juden? Oder gegenüber den Völkern der Sowjetunion, die der Krieg der Waffen und der Vernichtungskrieg zwanzig Millionen Leben oder mehr kostete?

Verlorenes Land könnte zurückgegeben werden, es bliebe, ob historisch erfüllbar oder nicht, jedenfalls die Möglichkeit dazu. Aber welche Antwort hätten die Verfasser der Charta und ihre Apologeten wohl parat gehabt auf die Frage von Überlebenden der erst besetzten und dann befreiten Völker: „Könnt ihr uns unsere Gefallenen, die Ermordeten wiedergeben?“

„Wir Heimatvertriebenen verzichten auf Rache und Vergeltung . . .“ Man mag es nicht glauben, aber so steht sie da – die Verwandlung der Opfer deutscher Aggression in Schuldner der Geschichte, der Angehörigen der Täternation aber in Gläubiger. Von allem Fatalen des Dokuments ist dieser stets im Brustton großmütigen Verzeihens vorgetragene Kernsatz das Fatalste, noch hinaus über das unausgesprochene hier ist Gleiches mit Gleichem vergolten worden.

Die genaue Lektüre der Charta der deutschen Heimatvertriebenen dechiffriert sie als das, was sie tatsächlich ist: ein klassisches, weil dem damaligen Zeitgeist voll entsprechendes Beispiel deutscher Verdrängungskünste! Es kappt jeden Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung, ignoriert die Chronologie der Ereignisse, exkulpiert die Primärverantwortlichen für die Vertreibung und den Heimatverlust, also Hitler und seine Anhänger, und macht Deutschland zum eigentlichen Opfer der Geschichte.

Eine kritische Überprüfung der Charta seitens der Vertriebenen und ihrer Nachkommen wäre längst überfällig. Aber wer die apologetische Haltung der neuen Führung kennt und die Papiere für ein Berliner „Zentrum der Vertreibung“ eingesehen hat, der hat wenig Grund, auf eine Wende zu hoffen. Zwar wird die „Deportation und ab 1941 die Vernichtung von sechs Millionen europäischer Juden sowie die Ermordung von Sinti und Roma“ erwähnt, aber das als „entmenschter Ausdruck von Hitlers Rassenwahn“, gleichsam, als hätte dieser Wahn nicht seine gesellschaftliche Verbreitung und ein inflationäres Täterambiente gehabt. Nein, es sieht nicht so aus, als wenn das „Zentrum der Vertreibung“, entworfen als „bislang ungewöhnliche Mischform zwischen Museum und inszenierter Dokumentation“, die in den Hochetagen der Vertriebenenorganisationen bisher praktizierte Berührungsphobie gegenüber Hitlerdeutschland und seiner Geschichte wirklich überwinden wird. Konzessionen Erika Steinbachs bleiben marginal.

Falls bis hierher der Eindruck entstanden sein sollte, der Autor stehe der Vertriebenenproblematik ohne Verständnis gegenüber – nichts wäre verkehrter als das. In meinem Buch „Ostpreußen ade – Reise durch ein melancholisches Land“ sage ich: „Wie hält man es aus, eine Heimat wie diese verlassen zu müssen, ohne dass einem das Herz bricht?“

Die Opfer werden zu Schuldnern der Geschichte, die Angehörigen der Täternation aber zu Gläubigern

O ja – wie nur . . .

Und wie denn denen, die davon betroffen waren, Mitempfinden versagen, zumal jenen unter ihnen, die schon von ihrem Lebensalter her keine Verantwortung für die Ursachen der Vertreibung haben konnten und die dennoch Furchtbares zu ertragen hatten? Deshalb keine Missverständnisse: Alle Verbrechen, alle Not, all das unsagbare Elend im Gefolge der Vertreibung – es muss auf den Tisch, restlos. Aber das im Sinne zweier Deutscher, die beide auf ihre Art das Verhängsnis auf den Punkt gebracht haen. Richard von Weizsäcker während seiner Rede am 8. Mai 1985 im Deutschen Bundestag zum 40. Jahrestag der Befreiung: „Die Ursachen der Vertreibung liegen nicht am Ende des Krieges, sondern an seinem Anfang.“ Und Willy Brandt: „Wir konnten nichts verlieren und haben nichts verloren, was Hitler nicht schon verspielt hatte.“

Ob Gerhard Schröder das noch im Ohr haben wird?

RALPH GIORDANO