Der Standortvorteil Multikultur

Australien wird sich bei den Olympischen Spielen in Sydney der Weltöffentlichkeit als erfolgreiches multikulturelles Land präsentieren – trotz rassistischer Geschichte im Verhältnis zu den Aborigines und fortwährenden Identitätsproblemen

von SVEN HANSEN

Bei der Bewerbung um die Olympischen Spiele 2000 spielte der multikulturelle Charakter Australiens und Sydneys seinerzeit eine wichtige Rolle. Und selbstverständlich hat das lokale Organisationskomitee für die Olympiade ein multikulturelles Beratungsgremium. Dennoch: Der in der Hauptstadt Canberra stationierte schwarze US-Diplomat Don Washington preist zwar die Erfolge der australischen Wirtschaftspolitik, doch die Praxis des Multikulturalismus überzeugt ihn nicht. „Das soll ein multikulturelles Land sein? Vielleicht, wenn man darunter das Zusammenleben von Briten, Deutschen und Griechen versteht. Aber hier gibt es so gut wie immer noch keine Asiaten in der Regierung oder Armee und nicht einmal bei den neuen Internetfirmen.“ Und der Chef der australischen Fox-Filmstudios, Kim Williams, wundert sich, warum es so schwer ist, italienische Maskenbildner für eine mehrmonatige Filmproduktion überhaupt nach Australien einreisen zu lassen. Des Hogan von der Menschenrechtsorganisation amnesty international kritisiert die inhumane monatelange Inhaftierung von Asylbewerbern in abgelegenen Camps.

„Ich habe das Wort Multikulturalismus nie gemocht“, sagt ausgerechnet der Vater der australischen Multikulturalismuspolitik, Jerzy Zubrzycki. Der 80-jährige polnischstämmige Soziologe war ab der zweiten Hälfte der 60er-Jahre maßgeblich daran beteiligt, die rassistische „White Australia“-Politik durch den Multikulturalismus zu ersetzen. „Der Multikulturalismus ist für uns alle gut.“

Australiens Protagonisten des Multikulturalismus sehen das Land mit seinem heutigen hohen Anteil an Einwanderern aus aller Welt als bestens positioniert für das Zeitalter der Globalisierung. „Unser größter Vorteil ist unsere kulturelle Vielfalt“, meint der Ökonom Jock Collins von der Technischen Unversität Sydney. Manche Konzerne wissen dies inzwischen zu nutzen und haben ihr Hauptquartier für die Asien-Pazifik-Region nach Sydney verlegt. „Wir haben mehr Migranten als jedes andere Land“, sagt Collins. Insgesamt sind 42 Prozent der 19 Millionen Australier Einwanderer aus erster oder zweiter Generation.

Zwei Jahre nach dem offiziellen Ende der diskriminierenden Einwanderungspolitik, die jahrzehntelang nur Weiße ins Land ließ und deren Assimilation im anglokeltischen Mainstream anstrebte, bekannten sich 1975 die Führer der beiden großen Parteien zum Multikulturalismus. Der ist seitdem erklärte Politik, unabhängig davon, ob gerade die Liberal oder die Labour Party regiert. In den vergangenen knapp 30 Jahren hat die Einwanderung aus Asien stark zugenommen, zunächst aus Vietnam, dann aus Hongkong und China.

„Der dramatische Wandel der ethnischen und kulturellen Zusammensetzung Australiens, der in den letzten eineinhalb Generationen stattfand, entspricht dem Wandel Kanadas von drei und der USA von über sechs Generationen“, stellt der von der Regierung eingesetzte Nationale Rat für Multikultur fest, dem auch Zubrzycki angehört. Inzwischen wohnt in Australiens Städten ein buntes Bevölkerungsgemisch aus der ganzen Welt. Der Gang durch ein Kneipenviertel ist eine kulinarische Weltreise. Es gibt eine einzigartige Vielfalt, die das Land nicht nur vom britischen Essen erlöst hat, sondern selbst immer wieder neue Kreationen hervorbringt. Es kann passieren, dass die Speisekarte nur eines Restaurants schwäbische Spätzle neben griechischem Salat, japanischer Miso-Suppe, indischem Curry, indonesischem Gado-Gado, italienischen Spagetti, thailändischen Nudeln oder vietnamesischen Reisgerichten zu australischem Wein oder Bier bietet – und alles in hoher Qualität.

Laut Umfragen unterstützen mindestens zwei Drittel der Bevölkerung den Multikulturalismus. Doch kaum jemand ist für eine Erhöhung der jährlichen Zuwanderungsrate von rund 80.000 Personen, wozu auch Asylsuchende und humanitäre Fälle zählen. Nicht nur sehen bereits etablierte Einwanderer oft auf Neuankömmlinge herab, auch unter Einwanderern sind Ressentiments gegen Migranten aus anderen Ländern nicht unbekannt. Der schnelle Wandel der Gesellschaft kennt auch Rückschläge wie die Wahlerfolge der rassistischen One Nation Partei von 1996 bis 1998. Sie bekam bei den Parlamentswahlen 1998 sogar eine Million Stimmen. Die Partei fordert ein Ende der Zuwanderung und eine Rückbesinnung auf das britische Erbe. Zwar ist One Nation inzwischen an der Unfähigkeit der eigenen Führung zerbrochen, doch das Potenzial der Partei ist noch vorhanden.

Für One Nation ist Multikulturalismus der Sündenbock, was Zubrzyckis Bedenken gegen den Begriff nur verstärkt hat. „Wir müssen uns überlegen, ob der fortgesetzte Gebrauch des Ausdrucks nicht eine Abschreckung für die Akzeptanz einer Ideologie ist, die versucht, Gerechtigkeit, Zivilität und Würde für alle Australier zu erreichen, unabhängig von ihrem ethnischen und rassischen Hintergrund“, meint der Soziologe.

Australier bezeichnen sich lieber als kosmopolitisch, glaubt der bekannte Sozialforscher Hugh Mackay: „Das klingt aufregend, als hätten wir etwas erreicht, und nicht so, als sei uns etwas auferlegt worden.“ Als der Rat für Multikultur von der Regierung, deren konservativer Premier John Howard das Wort „Multikulturalismus“ selbst nur ungern in den Mund nimmt, zur Überprüfung der Politik aufgefordert wurde, sollte er auch untersuchen, ob der Begriff noch angemessen sei. Der Rat konnte kein besseres Wort finden, ergänzte es aber um den Zusatz „australisch“. Das wurde offizielle Politik. Damit wird betont, dass der Multikulturalismus kein beliebiges Konzept ist, sondern ein klares Bekenntnis zur australischen Nation und ihren Grundwerten Demokratie, Rechtsstaat und Marktwirtschaft beinhaltet – einschließlich der Nationalsprache Englisch. Deren Beherrschung wird als wichtig angesehen, damit alle Bürger zur Entwicklung des Landes beitragen können. Zugleich sollen auch die Muttersprachen der Einwanderer gefördert werden, um Australiens internationale Beziehungen zu stärken.

Das Multikulturalismus-Konzept sieht vor, dass die Einwanderer ihr kulturelles Erbe nicht nur pflegen können, sondern es sogar gefördert wird. Dabei soll jeder – Migrant wie gebürtiger Australier – selbst entscheiden können, was er behält und was er von anderen annimmt. Multikulturalismus wird als Anpassung in beide Richtungen und von beiden Seiten gesehen. Assimilation wird nicht angestrebt, sondern vielmehr Einheit in fortgesetzter Vielfalt, die als produktiver und vorteilhafter für alle angesehen wird.

So lautet zumindest die vom Rat für Multikultur formulierte Theorie. Die Praxis ist nicht so weit. „Viele Einwanderer können ihr Potenzial noch nicht ausschöpfen. Sie werden noch immer für ihr kulturelles Kapital mehr bestraft als belohnt“, sagt der Ökonom Collins. Er nennt das Beispiel britischer und arabischer Ingenieure, die an der gleichen Unversität in Großbritannien ausgebildet wurden, bevor sie nach Australien migrierten. Die Briten wurden als Ingenieure angestellt, die Araber mussten sich als Taxifahrer durchschlagen.

Für den Politologen Robert Manne aus Melbourne ist Australiens Gesellschaft zweigeteilt. „Ein Teil will, dass wir zur Republik werden, und ist an Multikulturalismus und Versöhnung mit den Aborigines interessiert. Der andere Teil will an der britischen Queen als Staatsoberhaupt wie an einem anglokeltischen Australien festhalten.“ Der erste Teil lebe vor allem in den Großstädten, der zweite Teil eher auf dem Land. „Trotzdem könnte sich in Australien kein Politiker einen Slogan wie ,Kinder statt Inder‘ leisten“, meint Manne. „Wer hier Menschen nach ethnischen Kriterien auswählen wollte, hätte verspielt. Die Herkunft darf offiziell keine Rolle spielen.“

Manne sieht bei den Australiern ein großes Identitätsproblem: „Es hat drei Ebenen: das Verhältnis zur früheren Kolonialmacht Großbritannien, das Verhältnis zu Asien und das Verhältnis zu den Aborigines.“ Während die Australier sich gegenüber der britischen Kolonialmacht immer beweisen wollten, ähnelt ihr Verhältnis zu Asien dem der Türken zu Europa: Man gehöre irgendwie dazu und irgendwie nicht und schwanke hin und her. „Australiens Identität und Kultur ist sehr komplex und ist es immer gewesen. Es gab von beidem nie eine allgemein akzeptierte Definition und wird es wohl auch nie geben“, sagt der Rat für Multikultur.

„Im Verhältnis zu den Aborigines haben die Australier ihre eigene Geschichte wie einen Schock erlebt“, meint Manne. Erst kürzlich setzte sich die Erkenntnis durch, dass Australien nicht als unbewohnter Kontinent besiedelt worden ist, sondern den Aborigines gewaltsam gestohlen wurde. Mit dem Bekenntnis zum Multikulturalismus wurde zunehmend auch das Verhältnis zu den Ureinwohnern hinterfragt.

Der Multikulturalismus ist auch eine Form der Assimilation, meint der Historiker Bain Attwood von der Monash-Universität in Melbourne. Und indem der Multikulturalismus die Aborigines nur zu einer Minderheit unter vielen mache, ließen sich die Forderungen der Ureinwohner nach Wiedergutmachung leichter abbügeln. So erhoben kürzlich in einer Fernsehdiskussion ausgerechnet Vertreter von One Nation den Vorwurf des Rassismus, als Aborigines Sonderrechte forderten, die ihre fortdauernde Benachteiligung aufheben sollten. Die Ablehnung einer Wiedergutmachung mit Rassismus zu begründen geht dabei mit der Weigerung einher, das an den Aborigines begangene Unrecht überhaupt anzuerkennen.

„Trotz seiner vielen Widersprüche ist Multikulturalismus der beste Rahmen für eine Gesellschaft wie unsere“, meint der Ökonom Collins. „Wir haben mehr Multikulturalismus als andere, aber kennen eigentlich keine ethnische Gewalt.“ Der Politologe Manne sieht es ähnlich: „Es gibt hier keine Alternative zum Multikulturalismus.“