Stürmischer Wirbel

Das Mariinsky Theater Sankt Petersburg mit Sofia Gubaidulinas „Johannes-Passion“ in der Philharmonie

Diese Klänge sind nackt; die Komponistin hat die Musik entkleidet. Der Gestus ist grob, rudimentär und elementar; der Tonraum geweitet. Er zerschellt in den Tiefen einer unwiderstehlich nölenden, bassigen Stimme und er verflüchtigt sich in den säuselnden Höhen des Chorsoprans. Hier und dort schwingen elektronische Klänge von Ferne herein. Sie geben zu verstehen, dass sich dieser Raum noch endlos ausdehnen lässt.

Zwei Tage nach der Stuttgarter Premiere brachten Chor und Orchester des Mariinsky Theaters St. Petersburg unter Valery Gergiev der „Johannes-Passion“ von Sofia Gubaidulina am Sonntagabend in der Berliner Philharmonie zur erneutenAufführung. Das Libretto vermischt die Passionserzählung des Johannes mit den kraftvollen, düsteren Bildern seiner apokalyptischen Offenbarung. Eine Passionsvertonung ist für jeden Komponisten eine Herausforderung, der man nicht mit einem dreiminütigem Klavierlied begegnet. Und es ist angesichts des schwergewichtigen Anliegens nicht erstaunlich, dass die Komponistin ein großes Orchester samt Orgel auffährt, dass der Chor die Bühne der Philharmonie zum Bersten füllt und dass das Werk weit über eineinhalb Stunden dauert.

Dabei möchte man Gubaidulina auch gar nicht unterstellen, dass sie unbedingt der fehlerhaften Gleichung „Ich empfinde sehr viel, also verwende ich sehr viele Instrumente“ unterliegt. Im Gegenteil hat sie in ihren kammermusikalischen Gebeten immer wieder das Ausdruckspotenzial asketischer Zurückhaltung herausgefordert. Ihre „Johannes-Passion“ aber ist in ihrem Pathos überwältigend. Rezitativ-ähnliche Passagen werden vom stürmischen Wirbel dreier großer Trommeln begleitet; schuldbeladenes Flehen findet seinen Niederschlag in unerbittlichen Crescendi. Manches erinnert an die religiösen Ausstellungsmusiken des 19. Jahrhunderts, manches an Johann Sebastian Bach.

Es ist große Musik. Und Größe ist in der Kunst eine der Tendenz nach konservative Kategorie. Sofia Gubaidulina neigt nicht eben zur radikalen Neuerung. Die Komponistin wurde 1931 im tatarischen Tschistopol geboren. Ihre stilistische Entwicklung ist wie die von Dmitri Schostakowitsch oder Alfred Schnittke wesentlich von der Auseinandersetzung mit dem sowjet-ästhetischen Dogma geprägt. Indem sie aber tradierte Zusammenhänge vorstellt, gelingt es ihr beinahe mühelos, ihre Musik als allgemein verständliche Rede zu gestalten. Illustrative Verfahren haben hier einen Grad an Kohärenz erreicht, der es auch in Musik- und Religionsgeschichte höchstens Halbgebildeten erlaubt, dem Verlauf eines Werkes zu folgen.

Gubaidulina machte die religiöse Erschütterung der Passion allenthalben fassbar. Natürlich hat man Klänge gehört, die weiter vordringen zu den Grenzen musikalischen Ausdrucks, die den Konnex zwischen einem Ton und der von ihm ausgelösten Empfindung in Frage stellen. Ausgedient hat das Modell der Moderne mit seiner nachdrücklichen Diktion deshalb nicht. Davon konnte man sich am Sonntagabend in der Philharmonie überzeugen lassen.

BJÖRN GOTTSTEIN