86.400 Sekunden sind ein Tag

Vor 100 Jahren begann mit einer Schuhfabrik der Brüder Tomas und Jan Bata der Aufstieg des tschechischen Dörfchens Zlín zur Hauptstadt der modernen Architektur. Heute ist das städtebauliche Gesamtkunstwerk mit den allgegenwärtigen Problemen europäischer Reformstaaten im Osten konfrontiert

von REINHARD SEISS

Das 20. Jahrhundert war unentwegter Fortschritt und Erneuerung. Auch in Zlín. Deshalb fühlt sich Karel Havlis immer noch den Idealen der Moderne verpflichtet, wenn er nun mit dem Umbau des Rathauses beginnt, das sein Vorgänger, Architekt Frantisek L. Gahura, in der „goldenen Ära“ der Stadt vor rund 70 Jahren errichtet hatte. Wie Gahura war auch Havlis Stadtarchitekt von Zlín, ehe er 1994 aus Protest gegen die veralteten und kurzsichtigen Entwicklungskonzepte der nach wie vor zentralistischen Regionalplanung aus Prag und Brünn zurücktrat.

Als freischaffender Architekt kämpfte Havlis gegen großmaßstäbige Straßenbauprojekte, den Wildwuchs von Einkaufszentren und die zunehmende Bedrohung des architektonischen Erbes von Zlín. Nun endlich scheint sein Engagement Früchte zu tragen: Bei den Kommunalwahlen 1999 wurde der parteilose Kandidat einer unabhängigen Bürgerliste zum Bürgermeister gewählt, die Zentralverwaltungen in Prag und Brünn erkennen mittlerweile die Notwendigkeit einer eigenständigen regionalen Planung und Entwicklung. Und nicht zuletzt wird Havlis wieder in die urbanistische Diskussion miteinbezogen, ja er wurde in diesem Jahr sogar an die Brünner Architekturfakultät berufen. Der Auftrag für den Umbau des Rathauses ist da nur folgerichtig: Immerhin hat die Paarung aus fortschrittlichem Bürgermeister und modernem Architekten in Zlín einige Tradition.

Zwei Selfmademen

Als die Brüder Tomas und Jan Bata vor 100 Jahren ihren Schuhmacherbetrieb aus der kleinen Untermiete am Hauptplatz in ihr neues Fabriksgebäude vor die Tore des abgeschiedenen mährischen Marktfleckens umsiedelten, vermochte noch niemand den Aufstieg Zlíns vorherzusehen. Tomas Bata (1876–1932), der ältere der beiden Brüder, kann wohl als Prototyp des europäischen Selfmademan angesehen werden: Mit 18 Jahren gründete er die Schuhwerkstatt, bei der Verlagerung der Produktion an den Stadtrand zur Jahrhundertwende stand er bereits 120 Arbeitern vor.

Die wachsende Produktion löste bald auch ein Reihe von Investitionen aus. Zwischen 1910 und 1913 wurde ein Kraftwerk errichtet, die Kanalisation aufgebaut sowie das Telefonnetz erweitert. Der Bau einer zusätzlichen Eisenbahnstrecke sowie die Regulierung des Drevnice-Flusses wurden durch den Ausbruch des Ersten Weltkrieges verhindert. Dieser bedeutete jedoch keineswegs einen Einbruch in der Entwicklung des Städtchens, denn Tomas Bata war es gelungen, den Auftrag für die gesamten Schuhlieferungen an die österreichisch-ungarische Armee zu gewinnen.

Von 1914 bis 1918 verzehnfachte sich die Zahl seiner Arbeiter auf 4.000. Die meisten pendelten zunächst täglich aus der Region ein oder wohnten notdürftig in der Stadt. Die Folge: Das Unternehmen begann mit dem Bau der ersten Arbeiterkolonien – Wohnungen für neue Bürger, die bei den Kommunalwahlen 1923 den Sieg der Wahlgruppe der Bata-Angestellten mit ermöglichten. Tomas Bata wurde Bürgermeister von Zlín. Fortan konnte er den dynamischen Aufschwung des Werks und die erstaunliche Entfaltung der Stadt aus eigener Hand steuern.

„In der Geschwindigkeit liegt Kraft“ und „Der Tag hat 86.400 Sekunden“ – Parolen wie diese standen an den Fabrikmauern zu lesen; Bata verlangte von seinen Arbeitern stets maximale Effizienz. Er war ein strenger Rationalist, und dies spiegelte sich nicht nur im Produktionsprozess, sondern auch an den Produktionsgebäuden wider. Sein Ziel war es, auch Bauwerke – genauso wie Schuhe – in Serienproduktion und somit kostengünstig herzustellen. Die Grundlage für Batas Fabrikbauten stellte ein Stahlbetonskelett mit Füllmauerwerk aus Ziegeln dar, das von den Ingenieuren der Bata-Baugesellschaft solange standardisiert wurde, bis ein universell verwendbarer 6,15 x 6,15 m Modulraster entstand. Dieser gelangte nicht nur im Industriebau, sondern auch im Gesellschafts- und Wohnbau zum Einsatz.

„Kollektiv arbeiten, individuell wohnen“ war die gegen Mietskasernen gerichtete Losung. Das Leben in Ein- bzw. Zweifamilienhäusern mit eigenem Garten sollte bei den Bewohnern eine für die Firma nützliche Zufriedenheit schaffen und soziale Unruhen eliminieren. So wurden die Hügel Zlíns von Batas Baugesellschaft im selben Maße mit den ziegelroten Wohnwürfeln überzogen wie die Beschäftigtenzahl des Werks wuchs – zwischen 1925 und 1930 von 5.200 auf 17.400.

Um trotz Serienproduktion qualitätvolles Bauen zu ermöglichen, konsultierte man die führenden Architekten des Landes. So durchdrangen sich die sachlichen Interessen eines Investors mit der rationalistischen Sachlichkeit der Ideen der europäischen Moderne. Und es wäre nicht Tomas Bata gewesen, hätte er nicht schon nach kurzer Zeit seinen ersten Planungschef, den bedeutenden Prager Architekt Jan Kotera, durch Frantisek L. Gahura ersetzt, einen begabten Maurer seiner Baufirma, den er zu Kotera nach Prag zum Studium entsandte.

Kotera und Gahura übertrugen auf Zlín Ideen der Gartenstadt, das Wohnen im Grünen wurde zum Leitgedanken bei der Konzeption der gesamten Stadt. So schufen und verwirklichten sie die Idee der „Gartenfabrik“: Noch heute führen Alleen zum Industriekomplex, durch die Werkstättenfenster sieht man auf Parkgrün. Die gesamte Region wurde in die Planung miteinbezogen, die Stadt sollte die Landschaft nicht bezwingen, sie sollte eine Produktions- und Wohneinheit mit der Landschaft bilden.

Die besondere Qualität, die die Werkssiedlungen von Zlín noch heute auszeichnet, rührt daher, dass sich die Architekten nie auf die funktionale Seite der Aufgabe beschränkten, sondern das grundlegende Konzept stets um ästhetische und psychologische Aspekte erweiterten. Forderungen sozialistischer Reformer der Zeit, wie etwa des Architekten Jan Vanek in seinem Aufsatz „Das Recht auf Wohnen – die Verpflichtung der Industrie“ wurden in Zlín durch den Chef des größten industriellen Konzerns im Lande, durch einen Vertreter des internationalen Kapitalismus realisiert. Tomas Bata wurde aber auch seinem Amt als Bürgermeister mehr als gerecht. In nur wenigen Jahren entstanden ein imposantes Handelszentrum mit Warenhaus (natürlich in Batas Besitz) und Markthalle, ein Gesellschaftshaus mit einem Großkino für über 2.000 Besucher, Sporthallen und Schwimmbäder, ein Krankenhaus, Arbeiterheime und Lehrlingsinternate, eine Reihe von Schulgebäuden, Studieninstitute, selbst ein Filmstudio, eine Bibliothek und ein Museum. Die Stadt erhielt großzügige Straßen und – vor allem zum Vorteil der Bata-Werke – eine neue Schienenverbindung, einen Schiffskanal, ja sogar einen Flughafen. Zum Wahrzeichen Zlíns wurde das 17-geschossige Verwaltungsgebäude der Bata-Werke, kurzzeitig das höchste Gebäude in Europa. Tomas Bata selbst saß in einem fahrbaren Büro – ein 6 x 6 m großer Aufzug sollte ihm ermöglichen, alle 17 Etagen zu überwachen. Nach einiger Zeit musste Bata aber davon Abstand nehmen, da er durch das ständige Pendeln zwischen den Geschossen kaum zu erreichen war.

Kapital und Kommune

Bata verstand es vorzüglich, das zum Wohle der Stadt Geschaffene für seinen Erfolg zu nutzen. Die Werkssiedlungen etwa wurden von Batas Baufirma mit Kapital aus den zum Teil an Konten gebundenen Arbeiterlöhnen errichtet. In den Lehrlingsinternaten bildete das Werk hoch qualifizierte Arbeiter aus. Auch nach dem Tod des Firmengründers – er zerschellte mit seinem Flugzeug bei dichtem Nebel an einem Schlot seiner Fabrik – hielt der Aufstieg des Unternehmens an. 1938 beschäftigte Bata über 65.000 Angestellte, ein Drittel davon im Ausland, und beherrschte sechs Siebtel der gesamten tschechoslowakischen Schuhproduktion sowie 90 Prozent des Schuhexports. Bata war der Welt größter Schuhkonzern. Die Stadt Zlín war binnen 40 Jahren vom 117. Platz unter den Städten des damaligen Mährens und Schlesiens mit über 44.000 Einwohnern auf Platz 4 aufgestiegen.

Mit den Schuhen aus Zlín wurde auch die Bata-Architektur exportiert. In Westeuropa und Nordamerika entstanden Fabriken, Geschäftshäuser und Wohnsiedlungen nach erprobtem Schema. Die Bata-Moderne war allerorts auch Symbol für den Schuh aus dem Hause Bata, eine permanente Werbung für die Fortschrittlichkeit der Firma. Die internationale Architektenschaft sah in Zlín, der ersten und einzigen funktionalistischen Stadt der Welt, die eindrucksvolle Realisierung der Theorien des modernen Städtebaus, ein funktionierendes Modell ihrer in Athen formulierten Charta.

Auch Le Corbusier bewunderte den Urbanismus und die Architektur in Zlín. Er war begeistert vom Modulsystem, entsprach es doch der in den Zwanzigerjahren leidenschaftlich propagierten, aber nie verwirklichten Idee der cité industrielle: soziale Vereinheitlichung, Rationalisierung der Arbeit und des Lebens in der Industriestadt. Bei seinem Aufenthalt in Zlín 1935 stellte er dem nunmehrigen Konzernchef Jan Bata sein Konzept der unité d’habitation für 5.000 Einwohner vor, doch der Unternehmer hielt beständig am Grundsatz des individuellen Wohnens fest.

Erst später, nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, der Machtübernahme durch die Kommunisten und der Enteignung Jan Batas, entstanden die ersten Wohnhochhäuser. Zlín hieß fortan Gottwaldov, zu Ehren des ersten kommunistischen Staatspräsidenten Klemens Gottwald, aus Bata wurde Svit. Glücklicherweise verblieben aber noch einige Architekten aus der „goldenen Ära“ Zlíns, wodurch der Geist der Zwanziger- und Dreißigerjahre noch einige Zeit weiterwirkte. Und ehe sich die Welle der Plattenbauten über die Stadt ergießen konnte, wurde sie quasi unter Schutz gestellt.

Die „Samtene Revolution“ 1989 bedeutete einen Einschnitt – in die wirtschaftliche und somit auch in die urbanistische Entwicklung Zlíns. Mit einem Schlag brach der Absatz in den ehemaligen Bruderstaaten zusammen, und am mittlerweile globalen Markt sieht sich Zlín der harten Konkurrenz noch billigerer Produktionsstandorte ausgesetzt. So heißt es nun für Politiker und Planer, neue Perspektiven für Zlín zu entwerfen. Karel Havlis gilt als Vorreiter dieser Bemühungen. Schon bald nach der Wende und ersten Kooperationen mit westlichen Architekten begann er die Stadt- und Regionalplanung Zlíns nach den Grundsätzen der nachhaltigen Entwicklung auszurichten – jener ganzheitlichen Planungsphilosophie, die ökonomische, ökologische, soziale und urbanistische Aspekte vereint. Gemeinsam mit Stadtplanern aus Österreich und den Niederlanden versuchte Havlis – auch noch nach seinem Ausscheiden aus der Verwaltung –, insbesondere die lokalen Potenziale für die Zukunft Zlíns aufzuzeigen. Um diese auch nutzen zu können, bemühen sich der Architekt und seine westlichen Partner nun um Hilfe seitens der Europäischen Union.

Es sollte der EU bewusst sein, dass eine allfällige Unterstützung in Zlín nicht nur ein für ganz Osteuropa vorbildliches Beispiel für nachhaltige Stadt- und Regionalentwicklung realisieren helfen könnte, sondern auch ein wichtiger Beitrag wäre, um das einzigartige architektonische Erbe im Herzen des Kontinents zu bewahren. Denn der dauerhafte Schutz des Stadtensembles wird nicht durch Denkmalsatzungen und Gestaltungsrichtlinien allein gelingen, sondern bedarf einer zukunftsträchtigen Wirtschaft – wie sie auch vor 100 Jahren am Beginn des modernen Zlín gestanden hat.