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Himmlers Tochter

Keine Bindung zur Mutter, keine Kenntnis vom Vater: Erst nach einer Fernsehdokumentation erkannte Helga K. die Seltsamkeiten in ihrem Leben

von KONRAD LISCHKA

Helga K. weiß nicht, ob sie vom Reichstag oder ihrem Leben erzählen soll. Heinrich Himmler ließ 1940 zu der SS-Weihstätte Quedlinburg Erde aus „allen Reichsgauen“ karren, ähnliche Erdrituale finden sich in Haackes Reichstagskunst wieder. „Man weiß so wenig über diese Zeit und die Kontinuitäten“, sagt Helga K. Von „man“ spricht sie, nicht von „ich“, „wir“ und auch nicht „den Menschen“. Das hat mit der Geschichte zu tun, die sie eigentlich erzählen will. Auch in ihr kommt der „Reichsführer SS“ Heinrich Himmler vor. Ohne ihn wäre Helga K. nicht geboren worden.

Jetzt ist sie doch beim Thema. Helga K. streicht die roten – gefärbten – Haare zurück, dreht den Bernsteinring am linken Mittelfinger, schaut lange ins Leere, dann von Tisch zu Tisch die Menschen im Café an. Zu Hause wollte sie nicht darüber sprechen. Darüber, dass sie das Kind einer kurzen Nacht im Juni 1940 ist, gezeugt auf einem Fest der Nazi-Elite anlässlich der Besetzung Frankreichs. Darüber, dass ihre Mutter Margarete – Sekretärin im Reichspropagandaministerium – sie im Lebensborn Steinhöring bei München zur Welt brachte. Und dort ließ.

In den Heimen des Lebensborn konnten Frauen, die dem arischen Ideal entsprachen, ihre (meist) unehelichen Kinder von SS-Männern gebären und in Pflegefamilien aufziehen lassen. Neun Lebensborn-Heime gab es in Deutschland, das erste eröffnete Heinrich Himmler im August 1936 in Steinhöring. Hier sollte der rassenreine Nachwuchs entstehen, die Elite für das „Tausendjährige Reich“.

„Selbst heute kann mit dem Begriff kaum jemand etwas anfangen. Allgemein hat man sich überhaupt erst in den späten Sechzigern gefragt, was die Eltern getan haben. Viele sind daran verzweifelt.“ Helga K.s Blick ist fokussiert. Sie wirkt jung. Trotz der 59 Jahre. Sie spricht schnell, spielerisch, präzise. Wie Anwälte in amerikanischen Courtroomfilmen. Aber Helga K. spricht ja auch nicht über sich, sie spricht über historische Fakten.

Das erste fundierte Buch über den Lebensborn veröffentlichte 1985 Georg Lilienthal, bis dahin gab es in Deutschland nur Schweigen. 1975, da lief eine französische Dokumentation im Deutschen Fernsehen. Helga K.s Blick driftet in die Unschärfe. Ein Fernsehbild vor Augen. Das Ortsschild Steinhöring. Derselbe Ort wie in ihrem Pass. Seitdem benutzt Helga K. das unpersönliche „man“. Seitdem liest Helga K. jede kleine Meldung über Ereignisse wie Haackes Reichstagskunst. Seitdem redet Helga K. gern über historische Fakten. Sie legt die Arme übereinander, stellt fest: „Da erkannte ich den Zusammenhang der Seltsamkeiten meines Lebens.“

Die Seltsamkeiten. Helga K. fühlte sich als Kind privilegiert. Privilegiert, weil sie, erst als es vorbei war, hörte, wie der Krieg in den Städten war, dass Bomben fielen und Menschen starben. Ihre ersten drei Jahre lebte sie bei einer Pflegefamilie in der Reichssiedlung „Rudolf Hess“ bei Pullach. Drei Jahre bei der Nazi-Elite. Helga K. hat Bilder von charmanten Männern in Uniformen zu Besuch am Sonntagmittag im Kopf. Dass der Pflegevater an der Judenvergasung in Chelmno bei Lodz beteiligt war, das weiß sie heute. Helga K. erinnert sich an die ungeheure Weite des Aufmarschplatzes der SS vorm Haus. Man musste jemand Besonderes sein, so zu wohnen. Im Kinderheim, in das ihre Mutter sie bei Kriegsende steckte, durfte sie für alle abwaschen. Sie war stolz darauf, und sie wurde von den anderen Kindern beneidet. Es war eine Ehre, der Gemeinschaft zu dienen. Und die Erzieherinnen trauten es allein ihr zu.

1947 nahm ihre Mutter sie zu sich nach München. Die Volksschule begann. Helga K. lernte, was eine „Nazisse“ war. Nichts Schlechtes, im Gegenteil: Die Nazi-Elite war vor allem eine Elite gewesen. Ihre Mutter erzählte ihren für die Zeit eleganten Freunden gerne vom „Dienst fürs Volk“ unter Goebbels und Bormann.

Etwas getrübt wurde Helga K.s Gefühl, etwas Besseres zu sein, ein einziges Mal. Der Vermieter, ein Kommunist und ehemaliger KZ-Häftling, nannte die Mutter eine Nazihure. Was Nazis wirklich waren, wusste die Tochter nicht. Was eine Hure ist, auch nicht. Es klang abwertend, aber ebenso abwertend wie das „KZler“ aus dem Mund ihrer Mutter.

Helga K. hat ihre Mutter nie in Frage gestellt. Auch nicht, als sie Ende der Fünziger im Gymnasium von einer engagierten Sozialdemokratin hörte, was KZ-Häftlinge und was Nazis sind. „Es wurde zu der Zeit überhaupt nicht über so etwas zwischen Eltern und Kindern geredet. Wir haben sowieso nie geredet. Zum Geburtstag bekam ich Blumen und einen Händedruck.“ Helga K. sagt es dahin, sie lacht bei der Erinnerung an die Blumen. Ein falsches Lachen. Nicht um Schmerz zu überdecken. Eher zynisch.

Sie waren sich zu fremd, als das die Kälte ihrer Mutter sie hätte verletzten können. Und Helga K. hat die Mutter nie an sich herankommen lassen.

Vielleicht, um nicht noch mehr spüren zu müssen, wie seltsam die eigene Vergangenheit war: Der im Krieg gefallene Vater, von dem keine Fotos und Erzählungen existierten; die Mutter, die im Propagandaministerium gearbeitet hatte. Solange sie mit ihrer Mutter nicht sprach, blieb die Normalität erhalten. Deshalb ist die Bitterkeit in ihrer Stimme nicht anklagend, nur hinnehmend: „Zum Abitur bekam ich einen Blumenstrauß. Dass ich Psychologie studierte, nahm meine Mutter schlicht zur Kenntnis.“

Helga K. floh vor dem Leben ihrer Mutter. Psychologie-, Soziologie-, Politik- und Volkswirtschaftsstudium, Achtundsechzig, Antivietnamdemos vor dem Amerikahaus, die erste Beatlesplatte, Jobs als Schauspielerin, Modell, Tanzlehrerin. In der Universität war die Seltsamkeit der Jugend vorbei. „Ich fühlte mich da zum ersten Mal frei. Es war so ein Gefühl des Aufbruchs in allen“, sagt sie.

Als Helga K. 1975 weinend vor ihrem Fernseher saß, das Ortsschild Steinhöring vor Augen, dachte sie nicht an ihre Mutter. „Ich hätte sie doch verletzt, wenn ich darüber gesprochen hätte.“ Helga K. fuhr allein nach Steinhöring hinaus, sah die verstaubten Scheinwerfer des Kreißsaals im ehemaligen Lebensborn, der nun ein Caritas-Heim für Behinderte ist. Der Bürgermeister war mächtig stolz, ihr alles erzählen zu dürfen, was er über den Lebensborn wusste.

Helga K. fragte nicht ihre Mutter, sie fragte die Geschichte. Die Halbtagsstelle im Kulturreferat der Stadt München ließ ihr Zeit genug, Georg Lilienthal in Steinhöring für sein Lebensborn-Buch zuzuarbeiten. Nebenher pflegte sie noch ihre Mutter, kaufte ein, wusch, bis diese 1993 an Herzversagen starb. Achtzehn Jahre lang ist nie das Wort Lebensborn gefallen. „Ich hatte nicht das Gefühl, belogen worden zu sein, sie hatte mir nur etwas verschwiegen.“ Ihre Stimme klingt aufrichtig bewundernd und seltsam befremdend: „Sie war eine starke Frau.“

Mit dem Film über Steinhöring war die Seltsamkeit, mit dem Tod der Mutter die Normalität vorbei. „Ich fühlte, dass ich mich dem Thema so wie nie vorher stellen konnte“, sagt Helga K.

Bevor es dazu kam, rief ihr Vater an.

Mit einem Strauß roter Nelken stand Helga K. am nächsten Tag vor seinem Haus am Tegernsee. Sie fiel einem „attraktiven, charmanten, hoch gebildeten“ Mann in die Arme. Helga K. blüht auf wie bei einem Gespräch über historische Fakten. Sie wiederholt immer wieder „attraktiv, charmant, hoch gebildet“. Und reich.

Sie traf einen 80-Jährigen, der ihr am ersten Tag schon eröffnete, er werde sie zur Haupterbin seiner Häuser und Wohnungen in Baden-Baden, Marbella und Teneriffa machen. Einen Mann, der von seinen Kindern aus erster Ehe seit 15 Jahren nichts mehr hörte, der seine uneheliche Tochter aber in die edlen Lokale am Tegernsee zum Essen lud. Einen Mann, der all das war, was ihre Mutter nie gewesen ist. „Er liebte Wagner. Ich war in Bayreuth, rief ihn in den Pausen an, um ihm alles zu erzählen, was er im Radio verpasste.“ Helga K. gab ihren Halbtagsjob auf, pflegte den alten Herrn. „Es war wie im Märchen. Meine Mutter war gerade gestorben, da hatte ich auf einmal einen reichen Vater.“ Da blieben Krieg und Holocaust bloß Hintergrund der Anekdoten eines „Lebemannes“. Im Repräsentationscorps in Paris sei er gewesen, erzählte er ihr. Und in diesen Erinnerungen ging es vor allem um die Französinnen. Nicht um Politik.

Er war der weltgewandte Vater, kein Nazi.

Helga K. nimmt ein Taschentuch. Ihr Vater hat sie belogen. Als er 1996 starb, gab es kein Testament. Und uneheliche Kinder, die vor 1949 geboren wurden, haben keinerlei Ansprüche. Was blieb, waren Schulden, die sie gemacht hat, als sie ihren Job für die Zeit mit dem Vater aufgab.

Nun glaubt sie nicht mehr an das, was er erzählt hat. Immerhin. Nicht an das Repräsentationscorps und an den Lebemann nur zum Teil. Sie hat ein Buch geschrieben. Ein historisches und ein persönliches. „Braunes Blut“ soll es heißen, wenn es im nächsten Jahr erscheint. Sie hat ihren Vater geliebt, sagt sie. Und: „Er hat mich benutzt, wie er alle Frauen benutzt hat. Ich war für ihn eine Krankenschwester, die ihr eigenes Gehalt mitbrachte.“ Helga K. lacht.

Diesmal klingt es bitter.

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