schmöckwitz, schmerzensgeld etc.
: Im Sommerloch verbargen sich die geheimnisvollsten Gefahrenmomente

„Kennen Sie zufällig einen Arzt?“

In diesem Jahr hatte ich mir vorgenommen, das Sommerloch zu füllen. Ich allein. Wenn alle Journalisten und Politiker am Meer lagen, Cocktails tranken und sich die Sonne auf den fetten Bauch schienen ließen, wollte ich zuschlagen. Ich hatte mir schon ein paar spannende Geschichten zurechtgelegt, die Vorrecherche konnte beginnen.

Dann wurde ich krank. Ich bekam Halsschmerzen und brachte nur noch ein unverständliches Krächzen zustande. Damit waren die Interviews mit der in Deutschland verbliebenen Prominenz gestorben. Meinem Arzt schrieb ich den Verlauf meiner Krankheit auf einen Zettel, er nickte verständnisvoll und sagte: Die jungen Leute interessieren sich ja heute gar nicht mehr für so was. Er entnahm eine Blutprobe und gab mir zwei Tage später telefonisch das Ergebnis durch: Pfeiffersches Drüsenfieber. Die Diagnose kam zeitgleich mit dem Sommeranfang.

Ich legte mich ins Bett. Draußen regnete es. In den Zeitungen lieferten sich die Meteorologen heftige Debatten, arbeitslose Rechtsradikale gingen ihrer Freizeitbeschäftigung nach und Claudia Schiffer wurde 30. Über und unter den Artikeln standen die üblichen Namen. Mein Name stand nur auf dem Krankenschein.

Nach zwei Monaten ging es mir etwas besser, ich konnte wieder sprechen und beschloss, eine Reportage über eine der längsten Straßen Berlins zu schreiben. Es war der erste sonnige Tag nach sieben Wochen. Ich setzte mich auf mein Fahrrad und fuhr los. Vorbei am sowjetischen Ehrenmal, an Kleingartenkolonien, Tankstellen und Fabrikanlagen, und an einer Frau, die am Straßenrand auf einer Matratze schlief. Ich fuhr durch den Berliner Stadtforst und unterhielt mich mit dem Förster, ich lernte eine Drogeriefachverkäuferin kennen und trank mit ihr ein Bier, ich wollte meine Sache gut machen und fuhr weiter bis nach Schmöckwitz.

Schmöckwitz! Schmöckwitz ist ein Nest, in dem eine sechsspurige Straße zu einer Tram-Endstation mit Kopfsteinpflaster wird. Auf dem Stadtplan ist dieser Ort nur auf der Nebenkarte 2 verzeichnet, Planquadrat 30 X. Ich hatte etwas Großes erwartet, wie alle im Sommer immer etwas Großes erwarten, die große Liebe, Sonnenschein, Top-Storys. Jedenfalls keinen Dorfplatz mit braunen Häusern, von denen der Putz abbröckelte. Ich drehte um, dachte an das Schlecker-Mädchen von vorhin und achtete nicht auf die Holzbohlen, die über dem Fahrradweg lagen.

Ich war eine Weile bewusstlos, und als ich wieder denken konnte, stand ein Mann über mir und fragte, ob mir was passiert sei. Mir lief Blut vom Kopf und meine Schulter schmerzte, mein Hemd war aufgerissen, links von mir lag das Vorderrad, rechts der Rahmen. Mir war etwas passiert. Einen Moment lang wusste ich nicht, wo ich war, und rief mir ein Taxi. Ich fragte den Mann nach seinem Namen, falls die Versicherung eingeschaltet werden müsse. „Ick hab nichts gesehen“, sagte er. „Kennen Sie zufällig einen Arzt?“ fragte ich. „Ärzte gibt’s hier nicht“, sagte er. Da wusste ich wieder, wo ich war: In Schmöckwitz. Ich ließ mich ins Krankenhaus Köpenick fahren und erfuhr von einer Frau, die schon vier Stunden auf eine Behandlung wartete, dass es besser ist, sich mit der Feuerwehr bringen zu lassen, nur dann wird man hier ernst genommen.

Wir kamen beide gleichzeitig an die Reihe, ich bekam eine Spritze und einen Verband, sie bekam ein Bett. Als ich wieder zu Hause war, telefonierte ich mit meiner Krankenkasse. Und da erfuhr ich, dass es besser gewesen wäre, wenn ich mir das Bein gebrochen hätte. „Für eine ambulante Behandlung übernehmen wir nicht die Fahrtkosten, nur für stationäre.“

Mein Versicherungsvertreter klärte mich darüber auf, dass man ein Fahrrad nicht gegen Unfall versichern könne, aber, so meinte er, es bestehe durchaus die Möglichkeit, Schmerzensgeld zu bekommen, falls Spätfolgen auftreten sollten. Ich setzte mich an den Küchentisch und schlug die Zeitung auf: Der Kanzler war aus dem Urlaub zurück, die UMTS-Lizenzen waren versteigert, Herr Wallert konnte wieder in Göttingen unterrichten, und auf der Expo gab es Lichterketten gegen Fremdenhass.

Alles in Ordnung, sagte ich mir, kein Grund zur Aufregung: Der Sommer ist bald vorbei.

JAN BRANDT