Das Recht auf Nichtwissen

Die Internetgesellschaft fordert Computerkenntnisse und ignoriert, wie wichtig Lebens- und Berufserfahrung sind. Zu fordern ist eine neue „Ökologie der Informationen“

Auch geschmähte Jobs erfordern Erfahrungswissen. „Gebt uns die Rumänen wieder!“, flehten die Landwirte

Wenn der Computerkonzern IBM die Zweiklassengesellschaft entdeckt, sollte man misstrauisch werden. Noch mehr Misstrauen ist angebracht, wenn IBM selbst zur Lösung der Klassenfrage beitragen will: Mehr Haushalte brauchten einen Internetanschluss, nur so werde die „digitale Kluft“ in Deutschland geschlossen, behauptete unlängst die Unternehmensinitiative „D 21“ unter Vorsitz von IBM. Die „digitale Kluft“, also die Spaltung zwischen Internet-Vernetzten und Nichtvernetzten, drohe Deutschland zu entzweien.

Auch der Spiegel machte die neue „Zweiklassengesellschaft“ aus: Internet-Angeschlossene sind informierter, flexibler und verdienen mehr, so ergab eine Studie wenig überraschend. „Deutsche ohne Internet – gehören sie bald zu den modernen Analphabeten?“, sorgt sich das Magazin. Das ist kaum zu erwarten: Denn selten wäre ein „Klassenkonflikt“ so leicht zu lösen wie durch die Anschaffung eines Aldi-Computers.

Inzwischen surft schon jeder dritte Deutsche regelmäßig im Netz. Das künftige Problem ist nicht der Zugriff, sondern die Verwertung von Daten. Welches Wissen gilt als nützlich und welches nicht. Oder anders: Wer ist im Besitz von „wertvollem“, wer nur noch im Besitz von „wertlosem“ Wissen? Das ist die neue Statusfrage.

Was zählt, ist die ökonomische Verwertbarkeit von Wissen. In der Informationsgesellschaft sind das vor allem Kenntnisse darüber, wie man noch mehr Wissen selektiert, verbreitet und transportiert. Reines Faktenwissen hingegen ist noch nie so schnell veraltet wie heute. Wenig gelten jahrelange Lebens- oder Berufserfahrung.

Die Ansammlung von Geschichtsdaten oder gar Bibelwissen erscheint beispielsweise als nicht mehr besonders wichtig: Nach einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Inra können nur noch 20 Prozent der Bevölkerung alle vier Evangelien benennen. Mit der Bibel lässt sich nun mal kein Geld verdienen.

Anders sieht es aus mit der Fähigkeit, mit Computer und Internet umzugehen. „IT-Kompetenz wird zu einer Kulturtechnik wie Lesen und Schreiben werden“, glaubt Arbeitspsychologin Kathrin Schnalzer vom Fraunhofer-Institut in Stuttgart.

Auf die Branchen der Informationstechnologie und Telekommunikation richten sich alle Hoffnungen. Deshalb muss die Mehrheit neidisch zusehen, wie die Wirtschaftspresse junge IT-Fachkräfte feiert, die angeblich mit Massagen im Büro und großzügigen Dienstwagen verwöhnt werden.

Weniger hingegen gibt es zu berichten über die 95 Prozent der Erwerbstätigen, die nicht im IT-Bereich schuften. Noch weniger gibt es zu sagen über Beschäftigte, die in traditionellen Berufen die immergleichen Tätigkeiten ausüben. Was zählt schon die jahrelange Routine einer Krankenschwester? Die Fähigkeit einer Kassiererin, jeden Samstag um 13.30 Uhr noch freundlich zu sein? Die Konsequenzen bei den Löhnen sind geradezu absurd: Die an sich schon attraktiven Arbeiten werden auch noch gut bezahlt, und die elenden Jobs werden wie zum Hohn mit einem Almosen abgespeist.

Diese Kluft ist durch den Fachkräftemangel in der Computerbranche noch größer geworden. In seltenen Momenten jedoch wird deutlich, dass auch der geschmähteste Routinejob durchaus Erfahrungswissen erfordert. Als vor einem Jahr deutsche Arbeitslose in die Ernte geschickt wurden, zeigte sich, dass keineswegs jeder fürs Äpfelpflücken geeignet ist – weil man dafür körperliche Kraft, Übung und Zähigkeit braucht. „Gebt uns die Rumänen wieder!“, flehten die ostdeutschen Landwirte.

Nicht nur körperliches und seelisches Durchhaltevermögen, auch zwischenmenschliche Fähigkeiten drohen mit dem Boom der Informationswirtschaft zu verkümmern. In den Betrieben werden sich die Beschäftigten künftig unternehmensintern zunehmend über Intranet, also über E-Mails austauschen, sagt Schnalzer vom Fraunhofer-Institut. Das erfordert beispielsweise von einem Lagerarbeiter, der elektronische Formulare ausfüllen muss, eine hohe inhaltliche Präzision.

Durch den elektronischen Kontakt verkümmert die analoge Kommunikation, die etwa aus Körpersignalen, Sprechweisen besteht und im menschlichen Kontakt rund 90 Prozent der Signale überträgt. Auch hier wird kompensiert: Nicht wenige Chefs der neuen Internet-Unternehmen besuchen am Wochenende heimlich Seminare im Neurolinguistischen Programmieren (NLP), wo die Fähigkeit des analogen Kommunizierens wieder gelehrt wird.

Die ständige Produktion von neuen Informationen bedroht „alte“ Fertigkeiten. Doch die zunehmende Ökonomisierung des Wissens durch den Aufstieg der Informationswirtschaft stößt an Grenzen.

Denn die Produktion, Weitergabe und Aufnahme von Informationen ist nämlich keineswegs zu trennen von sozialen Netzwerken, von Biografien, vom Gedächtnis, kurz: von Erfahrung. Wissen entscheidet daher nicht nur über den Zugang zu Netzwerken – umgekehrt entscheiden auch Netzwerke, Biografien, Gedächtnis über die Aufnahme und Verweigerung von Informationen.

Was zählt die Fähigkeit einer Kassiererin, jeden Samstag um 13.30 Uhr noch freundlich zu sein?

Daraus sollte man ein Politikum machen: Jeder hat ein Recht auf Nichtwissen. Oder anders: Bedenkenswert ist eine „Ökologie des Wissens“. Dazu gehört nicht nur ein Recht, die Annahme von Informationen zu verweigern, sondern auch die Wertschätzung von „alten“ Fertigkeiten. Altenpflege und Kinderbetreuung etwa erfordern die immergleichen Kompetenzen: Geduld und Einfühlungsvermögen.

Auch die Akzeptanz von subkulturellen Zeichen gehört zu einem Umgang mit Wissen, der sich eben nicht in erster Linie an dessen ökonomischer Verwertbarkeit und dem kulturellen Mainstream orientiert. Für türkische Hauptschüler beispielsweise definiert der deutsch-türkische Slang, die „Kanaksprak“ eine eigene kulturelle Identität. Sie ist ihnen offenbar wichtiger als das Englisch, das ihnen die Unternehmensinitiative D 21 so dringend vermitteln will, damit sie besser im Internet surfen können.

Zu einer „Ökologie der Informationen“ muss die Erkenntnis gehören, dass viele Menschen vieles gar nicht wissen wollen und ein Recht darauf haben, wenn sie selbst die Folgen tragen. Was ist daran so schlimm, wenn die meisten Bundesbürger mit Mathe und Informatik wenig am Hut haben und dafür mehr gut ausgebildete Asiaten ins Land kommen, um die Lücke zu füllen?

Ohnehin nehmen sich die Menschen heimlich oder offen ihre „Auszeiten“ vom Infostress. Ketzerisch gesprochen: Wenn Informationen sowieso immer schneller veralten, kann man auch ruhig eine Zeitlang weiterbildungsfrei in die „Familienphase“ abtauchen, ohne viel zu versäumen. Es sei denn, die Aussteiger und Wiedereinsteiger würden wie die Verweigerer sozial ausgegrenzt und abgewertet. Dass dies nicht geschieht, bleibt eine politische Aufgabe für die Zukunft. BARBARA DRIBBUSCH