Brasilianer befragen sich selbst

Eine von oppositionellen Gruppen initiierte Volksbefragung soll klären, ob eine Mehrheit hinter einem Schuldenerlass für das eigene Land steht. Die Regierung will das Problem nicht erkennen. Sie sei zahlungsfähig, ein Problem gebe es nicht

„Die Industrieländer haben Lateinamerika zum wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch verurteilt“

aus São Paulo GERHARD DILGER

Im „Heiligtum der Seelen“, einer großen katholischen Kirche im Norden São Paulos, wird vor allem der Verstorbenen gedacht. Nach dem Gottesdienst strömen die Gläubigen in einen Seitenflügel, wo sie tausende von Kerzen entzünden. Viele machen unterwegs an einem unscheinbaren Tisch mit einer kleinen Urne aus Pappe halt: Dort können sie, höchst weltlich, auf einem Zettel ankreuzen, ob sie für oder gegen einen Erlass der brasilianischen Auslandsschulden sind.

Vor 178 Jahren löste sich Brasilien aus der portugiesischen Kolonialherrschaft. Ökonomisch war es bereits von Großbritannien abhängig. Heute diktiert der Internationale Währungsfonds (IWF) die Wirtschaftspolitik. Die katholische Kirche, Gewerkschaften, soziale Bewegungen und Oppositionsparteien setzen die Regierung von Fernando Henrique Cardoso mit einer selbst organisierten Volksbefragung zur Verschuldung unter Druck.

„Es will mir nicht in den Kopf, dass wir Milliarden in den Schuldendienst stecken, die dann im sozialen Bereich fehlen“, sagt Tereza Almeida dos Santos, eine resolute Frau um die sechzig. Nachdem sie sich mit Ausweisnummer und Unterschrift in das Abstimmungsregister eingetragen hat, füllt sie den Zettel aus und steckt ihn in die Urne. Für andere hingegen steht fest: „Schulden muss man zurückzahlen, ob als Privatmann, Firma oder Regierung.“

Im Zentrum São Paulos werben rote Fahnen und ein Lautsprecherwagen für die Volksbefragung.

Aktivistinnen aus der Frauenbewegung klären die Passanten über das Ziel der Befragung auf und helfen bei der Stimmabgabe. Diverse Redner attackieren die neoliberale Regierungspolitik auf Kosten der armen Bevölkerungsmehrheit. Ihre Forderung: Die Wahlberechtigten sollten die Rückzahlung der Auslandsschulden und der öffentlichen Binnenverschuldung ablehnen.

Außerdem soll die Regierung das Abkommen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) aufkündigen, das einen strikten Spar- und Konsolidierungskurs vorschreibt. Der Währungsfonds wird sich bei seiner Herbsttagung in Prag Ende des Monats erneut mit dem Thema Schuldenerlass befassen.

Seit Samstag waren in ganz Brasilien 48.200 Urnen aufgestellt: in Kirchen, Gewerkschaftsbüros, Gemeindezentren und auf öffentlichen Plätzen. Gestern Abend wurden die Urnen verschlossen. Das Ergebnis wird für den kommenden Mittwoch erwartet.

Seit drei Jahren informiert und mobilisiert die katholische Kirche Brasiliens zum Thema Schuldenerlass und unterstützt damit eine Kampagne des Vatikans für den Erlass der Auslandsschulden der „dritten Welt“. „Die Industrieländer und ihre Herrschaftsmechanismen haben Lateinamerika zum wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch verurteilt“, meinte Pedro Casaldiaga, Bischof von São Félix do Araguaia. „Wenn uns etwas davor retten könnte, dann wäre es die gemeinsame Entscheidung, die Auslandsschulden nicht zu bezahlen. Wir fordern nicht einfach einen Erlass, sondern eine detaillierte Untersuchung der Schulden.“ Danach sollten die Rückzahlungen auf einem für das Land angemessenen und gerechten Niveau wieder aufgenommen werden.

Die Großprojekte der Militärs in den Siebzigerjahren trieben Brasiliens Auslandsverschuldung in eine neue Dimension. Allein die interne Staatsverschuldung hat sich seit damals auf rund 200 Milliarden Dollar versechsfacht und macht 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus. Mit ihr finanzierte Präsident Cardoso vor allem die jahrelange Überbewertung der von ihm 1994 eingeführten Währung, des Real. Damit erweckte er erfolgreich den Anschein einer soliden Wirtschaftspolitik und sicherte sich die Wiederwahl 1998.

Die regierungsfreundlichen Medien hatten im Vorfeld der Volksbefragung alles getan, um die Aktion herunterzuspielen. Finanzminister Pedro Malan qualifizierte die Befragung zunächst als „Blödsinn“ ab, sah sich aber zuletzt gezwungen, seine Politik in der Presse ausführlich zu verteidigen. Die brasilianischen Auslandsschulden seien schon lange kein Problem mehr, behauptete er. Im Gegensatz zu armen Ländern wie Nicaragua oder Mosambik habe Brasilien keine Zahlungsschwierigkeiten.

Die Landlosenbewegung MST hingegen unterstützte die Volksbefragung. Mit den 126 Millonen Dollar, die von 1994 bis 1998 an die Gläubiger der Auslandsschulden zurückgezahlt wurden, hätte man die über fünf Millionen Familien von Landlosen ansiedeln können, sagte MST-Sprecher João Pedro Stedile.

Die oppositionelle Arbeiterpartei bringt in der kommenden Woche einen Gesetzentwurf für ein offizielles Plebiszit ein. Ihr Ziel ist, nicht nur eigene Schulden nicht mehr zu bezahlen, sondern, wohl aus Gründen der Gerechtigkeit, 31 ärmeren Ländern, die bei Brasilien verschuldet sind, insgesamt sechs Milliarden US-Dollar zu erlassen.

Ob die Initiatoren der Volksbefragung ihre Ziele erreichen, ist fraglich. Ihr Hauptziel indes haben sie schon jetzt erreicht: Die Staatsschulden und die Sozialpolitik der Regierung sind wieder Gegenstand der öffentlichen Diskussion. Und erneut ist deutlich geworden, wie eng der finanzpolitische Spielraum selbst für Lateinamerikas Wirtschaftsmacht Nummer eins ist.