„Epo ist von gestern“

Wildor Hollmann, emeritierter Sportmediziner der Sporthochschule Köln, freut sich auf die Olympischen Spiele. Der Expräsident der Deutschen Olympischen Gesellschaft warnt vor modernen Dopingmitteln, die von keinem Dopinglabor mehr aufgedeckt werden können

Interview BERND MÜLLENDER

taz-mag: Helfen Sie uns, Professor Hollmann! Immer häufiger sieht man als Sportfreund eine tolle Leistung, und aus der Skeptikerecke kommt: „Ach, die sind doch alle gedopt!“ So wird es auch bei Olympia sein. Gibt es noch glaubwürdige Antworten?

Wildor Hollmann: Da kann ich nur sagen: So geht es mir auch. Man kann sich heute wirklich bei keiner überdurchschnittlichen Leistung mehr davon frei machen, sich sogar selbst skeptisch zu fragen: War das jetzt sauber? Danach beginnt immer die Spekulation. Es gab so viele Dopingfälle, da drängt sich ein Verdacht sofort auf.

Erinnern Sie sich an Ihre erste Begegnung mit Doping?

Und wie! Es war ein klassisches Schlüsselerlebnis: Ein wunderschöner Sommerabend, Olympische Spiele 1960 in Rom. Ich war mit Mike Agostini, dem Weltrekordhalter über 200 Meter, fast befreundet durch Gastvorlesungen in Chicago. Wir schlenderten durchs olympische Dorf. Plötzlich holt er ein paar bläulich schimmernde Kapseln aus seiner Tasche, hält sie vor mich hin und sagt: Doktor, kennst du das? – Ich sag: Mike, was soll das sein? – Di-a-na-bol. Wenn man das nimmt, Doktor, dann wird man unerhört schnell. Das nehmen fast alle von den Amerikanern hier. – Und ich, der Doktor, sage: Also hör mal, es gibt überhaupt kein Medikament, sich künstlich schneller zu machen, als es biologisch vorgegeben ist. So ist das erste Anabolikum in mein Leben eingetreten.

Die naive Sichtweise haben Sie schnell verloren?

Nicht schnell. Aber stetig. Später in den Sechzigerjahren bekam ich Einblick in so genannte Geheimdaten der DDR, als wir wegen unserer Forschungen im Westen über die Grenzen menschlicher Leistungsfähigkeit dorthin eingeladen waren. Ab Ende der Sechzigerjahre war mir klar, dass Anabolika Leistungssteigerung bringen; bei einem Kugelstoßer etwa, der achtzehn Meter schafft, bis zu zweieinhalb Meter mehr.

Und was haben Sie mit dem brisanten Wissen gemacht?

Veröffentlicht. In Fachzeitschriften. Aber die Resonanz war gleich null. Weder Presse noch hiesige Trainer und andere Fachleute. Nichts. Auf die Dopingliste des Deutschen Sportbundes kamen Anabolika erst 1977.

Ohne Chemiestudium bleibt einem als Zuschauer heute, wenn wir schon das Innere nicht genau verstehen, oft nur das Spekulieren beim Blick auf das äußere Erscheinungsbild: Aha, Schuhgröße 52 – sicher ein Fall von Wachstumshormonen. Oder: Mondgesicht wie bei Jan Ullrich – da wird wohl mit Cortison gepowert . . .

Moment, das mit den Gliedmaßen stimmt so nicht. Bei den Wachstumshormonen spricht man von Akromegalie, dem abnormen äußerlichen Wachstum aller Spitzen im Körper: Nase oder Kinn. Aber nicht Füße und Hände. Und bei den Telekom-Radlern läuft nichts. Da bin ich mir sehr sicher. Die haben eine solche Angst, dass ihnen andere was anhängen wollen. Bei Cortison gibt es Veränderungen erst in hohen Dosen.

Wangenakne kann man gut erkennen. Sie gilt bei AthletInnen als Verdachtssymptom für Anabolika. Sind Anabolika noch weit verbreitet?

Sicher. Nehmen Sie nur die Diskussion um den Fall Baumann. Auch Nandrolone sind Anabolika einer besonderen Art. Nur so leicht nachweisbar, und deshalb wurde das eine so absurde Geschichte.

Sind viele vorschnelle Verdachtsmomente nicht Ausdruck unserer Hilflosigkeit und damit Resignation?

Resignation nicht. Aber Hilflosigkeit allemal. Man kann Athleten aber auch furchtbar Unrecht tun. Was anderes ist es, wenn sich jemand in zwei, drei Jahren unwahrscheinlich in der Figur verändert. Dann kann man berechtigt Verdacht schöpfen. Ich denke etwa an Florence Griffith-Joyner damals. Man kann vermuten, aber schon Schlüsse zu ziehen wäre falsch. Was bleibt, ist die Hoffnung auf funktionierende Dopingkontrollen. Vor allem beim Training. Nur: Bei den Trainingskontrollen sind gerade die USA das größte Problem.

Die behaupten, kein Geld zu haben. Ausgerechnet die USA.

Der nächste Generalverdacht! Und berechtigt. Was es heute schon für Listen ertappter Sportler gibt, gerade in Amerika! Was erst, wenn die Kontrollen dort etwa deutschen Ansprüchen genügen würden. Was mich als Sportfreund so betrübt: Jemand trainiert vier Jahre am Limit, holt das biologisch Höchstmögliche aus sich heraus und trifft dann auf jemanden, der einfach zehn Meter gegen den Wind nach Doping riecht.

Epo, ein Hormon, das rote Blutkörperchen bildet und somit die Sauerstoffzufuhr verstärkt, soll derzeit der Renner sein. In Sydney gibt es erstmals Epokontrollen. IOC-Chef Samaranch jubelt und sieht „hundert Prozent saubere Spiele“.

Das ist nichts als Sand in die Augen der Öffentlichkeit. Die neuen Epotests scheinen zwar sehr gut zu sein. Aber der Igel ist schon wieder Wege gelaufen, die der Hase erst jetzt zu erkennen beginnt. Das Neueste ist das Eponachfolgemittel Oxyglobin, eine Substanz aus Rinderblut, die ähnlich wie Epo wirkt, mit den bekannten Methoden aber nicht nachweisbar ist. Mein Kollege und Freund Professor Bengt Saltin aus Dänemark ist der festen Meinung, dass es längst genommen wird.

Saltin sagt, man kann das noch zehn Minuten vor dem Wettkampf spritzen. Und wird nicht ertappt. Dann ist Epo schon bald ein Mittel aus Dopers Steinzeit . . .

. . . zumindest schon ein Fall von gestern. Anfang der Neunzigerjahre wurden Wachstumshormone als neue Wunderdroge gefeiert. Als Ersatz für Anabolika. Nun hat der Münchner Wissenschaftler Christian Strasburger eine neue Nachweismethode entwickelt und einen Preis der Dopingopfer-Stiftung bekommen. Der Test soll ziemlich gut sein, kommt aber zu spät für Olympia. Wachstumshormone sind in einschlägigen Kreisen mittlerweile ziemlich gefürchtet wegen der gefährlichen Nebenwirkungen. Die stehen auf der Abstiegsliste der Drogenszene. Und es gibt längst wirksamere Substanzen.

Sind wir damit schon auf dem Sprung in die Zukunft?

Von Dopingfahnder Wilhelm Schänzer gibt es die schönste Bankrotterklärung: „Nach allem, was wir wissen, werden im Hochleistungssport mehr Wirkstoffe eingesetzt, als wir vermuten.“ Heißt: Wir wissen, dass wir nichts wissen.

Zumindest, dass wir immer viel zu wenig wissen.

Wir haben Ende der Sechzigerjahre schon gesagt: Wenn ich bei irgendeinem Medikament etwas wissen will, dann wende ich mich an einen Radrennfahrer, denn der weiß besser Bescheid als ein Arzt oder Chemiker. Damals wurde viel mehr geschluckt als heute, oft nach dem Trial-and-Error-Prinzip. Einer der weltbesten Radrennfahrer hat mir mal gesagt: „Bei der Tour oben auf dem Tourmalet nehm ich aus meiner Tasche eine Hand voll Tabletten und schluck sie. Nach der Abfahrt, wenn es den nächsten Berg hochgeht, wirken die schon.“ Heute habe ich den Verdacht, dass es Leute gibt, die systematisch die rote Liste danach durchforsten, ob irgendetwas Leistung bringen könnte. Und dann wird erprobt.

Seriöse Wissenschaftler machen Versuche mit Ratten, solche Leute nehmen Probiersportler.

Mit sportlichen Versuchskaninchen im Training. Dann bilden sich aus dem Gewühl und Gemenge einzelne Leistungstürme heraus. Und das wird genutzt.

Was sind die aktuellen Türme?

Für die Kraft immer noch Anabolika. Als Ersatz Wachstumshormone. Bei Ausdauerleistung Epo, das aber allmählich verdrängt wird durch Oxyglobin. Eine Renaissance scheint Cortison zu erleben. Weil es auch mental die Kondition verbessert. Und als Superdoping bald die Genmanipulation.

Haben Sie die Fantasie, sich das vorzustellen?

Nein, nicht im Detail. Wissen Sie, ich bin biederer Naturwissenschaftler mit ärztlichem Charakter. Genmanipulationen werden in ungeahnter Weise die Kraftleistungsfähigkeit steigern. Es gibt zum Beispiel Gene, die eine Bremswirkung auf die Entwicklung von bestimmten Muskelfasern haben. Wenn man diese Bremsen nun bremst – und das beginnt man schon heute zu lernen –, dann ist ein Muskelwachstum möglich, das über heutige Dimensionen noch weit hinausgeht. Es könnte in vier Jahren so weit sein.

Sehen wir also in Sydney die letzten genmanipulationsfreien Spiele?

Vielleicht. Die letzten anabolikafreien Spiele waren 1956 in Melbourne . . .

Immer Australien. Stets epochenbeendend. Müssen wir nicht bald die Akte zumachen und sagen: „Macht doch, was ihr wollt . . .“?

Nein, Freigabe darf es nie geben. Weil das nur mit Ärzten ginge. Und das darf ein Arzt nicht.

Indikationen gibt es immer . . .

Sie spielen auf die große Seuche derzeit mit Asthma an. Viele Sportler haben angeblich Asthma. Angeblich waren 45 Prozent der Tour-de-France-Fahrer dopingpositiv. Aber alle hatten Atteste.

Wer aus der Skeptikerecke all diese Befunde liest, wird triumphieren! Und sagen: Macht den Fernseher bei Olympia aus, ich will es nicht sehen.

Nein, nicht ausmachen! Olympia bleibt ein spannender Wettkampf. Man muss sich aber bemühen, die Frage zu unterdrücken, inwieweit es wirklich ein sportlicher Wettkampf ist; „sportlich“ schließt automatisch den Gedanken des Fair Play ein. Wenn das fehlt, ist es kein Sport mehr, sondern nur noch muskulärer Wettkampf.

BERND MÜLLENDER, 44, ist Redakteur der taz-Leibesübungen und freut sich schon auf die moralinsauren Empörungsreflexe nach dem ersten Dopingfall in Sydney