: Die Unmöglichkeit des Verschwindens
Immaterielle Spur der Texte: Marold L. Philippsens Stück „rimbaud 03“ streift durch die Landschaften,die der Schriftsteller bereiste. Ein „Sprechkonzert“ mit DJ-Set und Video-Performance im Theater am Halleschen Ufer
Rimbaud wollte im Unbekannten ankommen. Mit siebzehn Jahren verfasste der französische Poet ein Programm, das den Dichter als Seher und Multiplikator der geistigen Evolution entwirft. Durch seine entfesselte Imagination, die das dichterische Subjekt genauso hinter sich lässt wie die literarische Tradition, soll der rimbaudsche Voyant, der Dichter-Seher, zu einer „absoluten Modernität“ gelangen: das Neue, Unbekannte in nicht da gewesener Sprachform zu vermitteln. Mit dreiundzwanzig Jahren verabschiedet sich Rimbaud von der Literatur, überzeugt, dass er nichts mehr zu sagen hat, und geht seiner Wege. Er durchquert und verlässt Europa, geht nach Afrika. Auch seine Dichtungen lässt er hinter sich. In Abessinien lebt er als Kaufmann, handelt mit Kaffee, Waffen, Sklaven. Mit siebenunddreißig Jahren, 1891, stirbt Rimbaud an Knochenkrebs, ruhmlos.
Marold L. Philippsen bringt Rimbauds Verstummen auf die Bühne. Sein Stück „rimbaud 03“, heute Abend im Theater am Halleschen Ufer zu sehen, ist ein „Sprechkonzert“ für zwei Musiker und einen Schauspieler. Es beginnt mit einem halbstündigen DJ-Live-Set, bei dem Johannes Strobel und Rupert Huber elektronische Soundscapes erzeugen, die sich mit den Reisen Rimbauds verbinden. Gleichzeitig wird auf der bildlichen Ebene gearbeitet: Ein Video zeigt die Orte, die Rimbaud vor mehr als einhundert Jahren bereiste.
Diese Landschaften, deren historische Aufnahmen zum Teil digitalisiert wurden und dem Zuschauer die Illusion der Aktualität vermitteln, brechen auf, wenn Marold L. Philippsen Sprache einfügt. Konsequenterweise spricht er keine poetischen Texte Rimbauds, sondern verwendet Passagen aus Briefen, Rechnungen, historischen Dokumenten und Texten anderer Autoren wie des Ungarn Fetheny, der in „Die Reise in meinem Schädel“ seine eigene Gehirnoperation ohne Betäubung beschreibt. „Uns geht es darum, zu fragen, ob Verschwinden für Rimbaud überhaupt möglich ist. Deshalb gehen wir mit ihm von dem Moment an auf Reisen, als er beschlossen hat, nicht mehr zu schreiben, denn alles sei gesagt. Ist es wirklich so, oder findet sich nicht in seinen Briefen eine Absicht, etwas sagen zu wollen?“
Philippsen verweist auf die immaterielle Spur, die Rimbauds Texte hinterlassen, und darauf, dass „die Stoffe sich verändern, aber nicht verschwinden“. Sein Stück beginnt dort, wo der Dichter aufhört zu dichten, um das „wahre, abwesende Leben“ zu suchen. Er ist fasziniert von der „Ehrlichkeit, mit der Rimbaud dem toten Punkt in seinem Schaffen begegnet“ und so der Gefahr des Sichwiederholens, die das Ende der Innovation besiegelt, entgeht. „Die wenigsten hören auf.“ Doch Rimbaud, der in seinem literarischen Testament „Jahreszeiten in der Hölle“ an verschiedenen Stellen ankündigt, er habe genug von der Poesie, hat sich mit seinem schmalen Werk in die Geschichte eingeschrieben. „Er hat geschrieben, um gelesen zu werden, er kann nicht mehr verschwinden.“
Philippsens „Sprechkonzert“ spürt dem Schweigen nach, das keines ist. Die neunzigminütige Auseinandersetzung, die behauptet, „wie es gewesen sein könnte, dieses Leben ohne Dichtung für jemanden, der die Dichtung völlig erneuern wollte“, kann vom Zuschauer als eigene Reise unternommen werden: wenn er gewillt ist, in eine „Topografie des Erinnerns“ einzutreten, die als „Landschaft der rimbaudschen Gehirnwindungen abgeschritten werden kann“.
Nach dem Rauschen der Klänge, Bilder und Worte werden die Menschen die Bühne verlassen, die Geräte aber bleiben in der Spur, spielen weiter. So, als gäbe es kein Verschwinden, nur Fortsetzungen. JANA SITTNICK
„rimbaud 03“, heute um 21 Uhrim Theater am Halleschen Ufer,Hallesches Ufer 32, Berlin-Kreuzberg
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