Der Ofen ist noch lange nicht aus

Ehemalige Zechen, Panoramen auf Bergehalden und beleuchtete Stahlhütten – „die Route der Industriekultur“ im Ruhrgebiet zieht Touristen an. Gigantische Lichtshows und andere Kulturevents sorgen für Abwechslung

von CHRISTOPH SCHEUERMANN

Wie in einem Märchenwald bei Nacht bin ich umzingelt von verästelten Rohren und wirr verzweigten Eisenträgern. Es ist gespenstisch. Im Dunkel scheinen mich massive Eisenleitungen umschlingen zu wollen. Schlote schießen neben mir wie Bäume aus dem Boden in den nachtschwarzen Himmel. Und düster lauern Gänge auf den, der wagt, sie zu betreten. Ein eisernes Labyrinth, das ein Magier verzaubert und in rotes, grünes, blaues Licht getaucht hat: das ehemalige Stahlwerk Duisburg Meiderich.

Der Londoner Künstler Jonathan Park, der schon Pink Floyd und die Tanzshow „Lord of The Dance“ beleuchtete, verwandelt die einstige Stahlhütte am Wochenende in eine gigantische Leinwand für Lichtspiele. Wo früher die glühenden Feuer der Hochöfen den Himmel des Ruhrgebiets röteten, färbt heute künstliches Licht die Nacht.

Tagsüber sollte man nicht glauben, dass der undurchdringliche Eisenhaufen nach seinen Besuchern im Dunkeln greift, sie umschlingt und nicht mehr loslässt. Am Tage liegt er da wie ein grauer, lebloser Saurier. Er ist wie viele Industriegiganten im Ruhrgebiet: tot. In den traurigen Überlebenskämpfen der Achtzigerjahre haben die eisernen Kolosse die letzten paar tausend Arbeiter röchelnd auf die Straße gespuckt. Und an diesem zähen Brocken kaut das Ruhrgebiet noch heute: In manchen Regionen herrscht Arbeitslosigkeit von bis zu 16 Prozent. Früher, Anfang der Fünfzigerjahre, war das freilich anders: Da gab es noch Kohle und Arbeit satt im Pott. Hermann Neuhaus erzählt mir: „In meinem Jahrgang waren es 600 Bergmannslehrlinge auf Zollverein. Die Zechen und Stahlhütten waren eben die größten Arbeitgeber. Den Beruf des Bergmanns habe ich von der Pike auf gelernt.“

Angefangen hat Hermann Neuhaus 1951 in der Lesebandhalle der Zeche Zollverein in Essen. Als fünfzehnjähriger Pimpf hat er schwere Gesteinsbrocken schwitzend vom Fließband gehoben. „Die Sonne hat die Halle manchmal wie eine Sauna aufgeheizt. Die Luft war stickig, schwarz vom Kohlenstaub“, erinnert er sich an die schwarze Kindheit. Und abends, nach der harten Schicht auf Zollverein, war der junge Lehrling froh, endlich nach Hause, „inne Kolonie“ nach Essen-Katernberg gehen zu können. In diesen Arbeiterkolonien lebten früher – in bescheidenen Verhältnissen – die meisten Bergarbeiter der umliegenden Zechen oder Stahlhütten. Dabei waren die Siedlungen mehr als nur Stadtviertel: Da trafen sich die Kumpels nach Feierabend zum Pils „anner Ecke“, mästeten Schweine und Ziegen, züchteten Kaninchen und ließen Brieftauben fliegen.

Taubenzüchter gibt es noch heute im Ruhrgebiet. Beim Besuch der ehemaligen Zechensiedlung Oberhausen-Eisenheim raschelt und flattert es wild in einem grünen Holzschuppen. In einem Drahtkäfig auf der einen Seite des Schuppens sehe ich die gurrenden Tauben. Und wenig später treffe ich auch den Besitzer der Vögel: den Eisenheimer „Taubenkönig“ Manfred Heldt.

„Auf jedem Gebiet gibt es einen Professor“, erklärt mir Manfred Heldt seinen Beinamen. In den Vogelschlägen hinter dem Wohnhaus hat der 59-Jährige 180 Tauben untergebracht. Zusammen mit seinem Bruder Gustav züchtet Manfred Heldt die Tauben, zieht sie groß und fährt mit den besten Tieren am Wochenende Hunderte von Kilometern weit, nur um sie wieder nach Hause, nach Eisenheim, fliegen zu sehen. Sogar den weiten Weg von Polen nach Oberhausen haben einige Tauben hinter sich.

Aber auch wenn die beiden Vogelzüchter ihre Lieblinge in weiter Ferne aussetzen, sie selbst sind Eisenheim treu geblieben. Ihr Vater ist im Jahr 1927 in das Haus eingezogen, wo Heldt mit seiner Familie noch heute lebt. Natürlich hat sich in über siebzig Jahren in der Kolonie auch manches verändert. Manfred Heldt erinnert sich an Einzelheiten: „Das Klo war früher im Bretterverschlag gegenüber dem Haus. Eine Heizung gegen die Eiseskälte im Winter gab es dort nicht. Und die Toilettenspülung war eine Gießkanne voll Wasser neben dem Schuppen.“ Erst seit der Renovierung der Siedlung im Jahr 1980 müssen die Eisenheimer nicht mehr über eine Straße auf die Toilette gehen. Während die zwei schneeweißen Gänse im Garten aufgeregt schnattern, gibt Gustav Heldt zu bedenken: „Unser Vater hat früher auf’m Pütt malocht, auf Zeche Osterfeld, alles schwarzer Staub. Und was hatte er davon? Mit 65 Jahren ist er gestorben.“

Dreckigen Zechenstaub unter Tage atmen die Eisenheimer heute nicht mehr. Keiner der wenigen Bergarbeiter der Region wohnt noch hier. Auf Zeche Zollverein in Essen schnürt die Hitze niemandem mehr die Kehle zu. Und Kumpel Hermann Neuhaus, heute 64 Jahre alt, führt mich in makellos weißem Kittel durch seine ehemalige Arbeitsstätte.

Der „Kölner Dom der Industriekultur“, wie der Kommunalverband Ruhrgebiet (KVR) die Essener Zeche nennt, hat allein letztes Jahr 28.000 Touristen in seine alten Gebäude gelockt. Gäste der zahlreichen Konzerte, Ausstellungen, Theaterfestivals und des Zechenrestaurants nicht mitgerechnet. Das heutige Zechengelände Zollverein ist einer von insgesamt 19 Ankerpunkten auf der „Route der Industriekultur“ im Ruhrgebiet. Die Route vernetzt auf etwa 400 Kilometern Länge die Sehenswürdigkeiten der Region: ehemalige Zechen, Panoramen auf Bergehalden, beleuchtete Stahlhütten und ehemalige Arbeitersiedlungen. Auf der Tour entdecken die Besucher die Region bequem per Bahn, Bus, Auto, Rad oder sogar auf dem Wasser. Im Ruhrgebiet wird die Kohle zur neuen Kultur gemacht. Kunst hat rostiges Eisen nirgendwo so großartig verwandelt wie hier. Das Motto des KVR im Ruhrgebiet: „Der Pott kocht.“

Auskünfte und Informationsbroschüren zur „Route der Industriekultur“ gibt es beim KVR unter (01 80) 4 00 00 86.Im Internet findet man Informationen unter www.route-industriekultur.de.Literatur zum Thema Ruhrgebiet:Routen-Broschüren des KVR (unter o. a. Nummer anfordern); Roland Günter: „Im Tal der Könige – Ein Reisebuch zu Emscher, Rhein und Ruhr“ (überarbeitete Neuauflage). 560 Seiten, Klartext Verlag Essen, 38 DM