KERSTIN MÜLLERS NIEDERLAGE OFFENBART DEN FRUST DER LINKEN
: Grüne Räson

Auf ihrer Klausurtagung bei Berlin sollte nichts schief gehen. Die Grünen hatten sich darauf geeinigt, ihre beiden Fraktionsspitzen ohne Gegenkandidaten zu wählen. Doch dann geschah, was immer bei den Grünen passiert, wenn alles in geordneten Bahnen verlaufen soll: Der Plan ging nicht auf. Kerstin Müller, die Vertreterin der Linken, erhielt im ersten Wahlgang keine Mehrheit.

Das Votum ist allerdings weniger gegen Müller gerichtet als vielmehr Ausdruck eines tief sitzenden Grolls bei einem Teil der Fraktion, genauer,der Linken. Er speist sich zum einen aus der eigenen Schwäche, zum anderen aus dem Zwang zur Anpassung. Die Linken bei den Grünen schmerzt dieser Prozess der Regierungspartei umso mehr, als ihre politisch-moralischen Ansprüche ausgesprochen hoch waren. Nun muss man erkennen, dass die grundsätzlich andere Politik, die man sich gewünscht hatte, eine Illusion bleiben wird. Dass man vertreten muss, was man bis zum 27. September 1998 für unvertretbar hielt. Kurzum: dass man sich zunächst der Koalitions- und mehr und mehr auch der Staatsräson zu beugen hat.

So ist es kaum verwunderlich, dass die Fraktion – mit pflichtschuldigem Bedauern – die Genehmigungen der Bundesregierung für den Export einer Plutoniumanlage nach Russland und einer Waffenfabrik in die Türkei hinnahm.

Was angesichts der eigenen Hilflosigkeit noch übrig blieb, war die Abstrafung per Wahl. Es ist die jahrelang erprobte und gefürchtete Waffe der Grünen. Kürzlich traf sie auf der Bundesdelegiertenkonferenz Rezzo Schlauch, Müllers Kollegen vom Realo-Flügel in der Fraktionsspitze. Kaum hatte dieser das Auto für grüne Verhältnisse ein wenig zu sehr gelobt, wurde er bei der Wahl zum Parteirat mit dem knappsten Ergebnis bedacht.

Nun musste Kerstin Müller für den Frust der Parteilinken herhalten. Da die Linke weiß, dass es keinen Ausweg gibt – es sei denn zum Preis des Koalitionsbruchs – erinnerte sie sich eben an ihre alten (Un)tugenden. Ursache ihres Unmutes ist jedoch nicht Kerstin Müller, sondern die eigene Ohnmacht. SEVERIN WEILAND