Sie kleine hässliche Figur!

Wenn das so weitergeht, fangen wir nächstens an einzubrechen. Oder uns umzubringen. Verdammt noch mal. Aber wir, die taz, das verwirklichte Trotzdem, wir wollen anständig bleiben. Und überleben. Ein trotziger Beharrungsruf mit Erich Kästner

Bis die nächsteRevolution vorzubereiten ist, wird es noch etwas dauern. Aber dann sollte jemand da sein

In der so genannten schlechten Zeit – der langen, vor der ganz schlechten, die keine tausend Jahre währte – schrieb der zu Recht geliebte Autor Erich Kästner (ja, „Das doppelte Lottchen“ ist auch von ihm und „Emil und die Detektive“) einen Roman für Erwachsene mit dem Titel „Fabian“. Es sollte sein einziger ernster Roman bleiben, und es ging darin auch wahrhaftig nicht lustig zu. Der Titelheld Fabian wurde arbeitslos und fand sich schließlich, mit sehr vielen anderen, am Berliner Alexanderplatz beim Arbeitsamt wieder, genauer gesagt: in der Schlange davor. Es folgt ein Gespräch aus fünf Stimmen:

„Wenn das so weitergeht“, sagte ein kleiner Herr, „fange ich nächstens an einzubrechen.“

„Wenn das so leicht wäre“, seufzte sein Nachbar, ein kurzsichtiger Jüngling. „Sogar Stehlen will gelernt sein. Ich habe ein Jahr im Gefängnis gesessen. Also, es gibt erfreulichere Milieus.“

„Es ist mir egal, wenigstens vorher“, erklärte der kleine Herr erregt. „Meine Frau kann den Kindern nicht mal ein Stück Brot in die Schule mitgeben. Ich sehe mir das nicht länger mit an.“

„Als ob Stehlen Sinn hätte“, sagte ein großer, breiter Mensch. „Wenn der Kleinbürger nichts zu fressen hat, will er gleich zum Lumpenproletariat übergehen. Warum denken sie nicht klassenbewusst, Sie kleine hässliche Figur? Merken Sie noch immer nicht, wo Sie hingehören? Helfen Sie die politische Revolution vorbereiten!“

„Bis dahin sind meine Kinder verhungert. Und meine Sohlen sind völlig zerrissen. Wenn ich jedesmal hierher laufe, sind die Schuhe in einer Woche hin, und zum Fahren habe ich kein Geld.“

„Kriegen Sie keine Stiefel von der Wohlfahrt?“, fragte der Kurzsichtige.

„Ich habe so empfindliche Füße“, erklärte der kleine Herr.

„Hängen Sie sich auf!“ meinte der Mann am Fenster.

„Er hat einen so empfindlichen Hals“, sagte Fabian.

Der arme kleine Herr . . . Früher wären wir wenig nachsichtig mit ihm gewesen. Aber inzwischen, nach der einen oder anderen politischen Revolution, gehen wir in Gedanken sanfter mit ihm um. Auch ist das Kleinbürgertum nicht mehr das, was es mal war, vom Lumpenproletariat zu schweigen. Und ins Gefängnis gehört er auch nicht, ehrlich und willig, wie er ist.

Nicht einmal aufhängen kann er sich. Es wäre wohl auch schade um ihn.

Nun, es liegt ja auf der Hand, warum wir Ihnen das erzählen. Auch die taz hat einen empfindlichen Hals, und ihr sind vom langen Marsch inzwischen die Sohlen zerrissen. Bis die nächste Revolution vorzubereiten ist, wird es noch etwas dauern. Aber dann sollte jemand da sein!

Ob wir es bis dahin schaffen? Konzernfreie, total unabhängige Zeitung, schadstoffstarke Berichterstattung, immer für Frauen und gegen Gewalt, schwer international, ökologisch bis in die Kantine, linkslibertäre Tradition, der größte selbstverwaltete Betrieb, soziales Kunstwerk für sich, das verwirklichte Trotzdem, die beste Journalistenschule, stets für ne Kampagne gut, und dann die tollen Überschriften . . . die „Wahrheit“ . . . „Leibesübungen“ . . . super Plattenkritiken . . . So stottert der kleine Herr. Und der Sachbearbeiter beim Arbeitsamt lehnt sich über den Tisch: Aber wer braucht Sie denn, Mann?

Das werden wir sehen.