Brav auf dem Rücksitz des Kinos

Venedig, das war dieses Jahr ein Festival der verpassten Chancen. Man muss nicht gleich von einer Krise des Kinos reden. Aber den Kick, der den Blick zum Bild macht, suchte man vergebens. Immerhin: Mit Jafar Panahi gibt es einen ehrenwerten Sieger

von KATJA NICODEMUS

Was will man eigentlich mehr? Ein Festivalleiter zieht mit Altman, Allen, Chabrol & Co. die guten alten Leinwandprofis an Land und vergisst dabei trotzdem nicht das junge engagierte Kino. Einmal alles zusammenschütteln, das Schildchen „Wettbewerb“ drauf und abwarten, was passiert. Zum Beispiel hätte es so wie in Clint Eastwoods Film „Space Cowboys“ laufen können (Kinostart übrigens am Donnerstag): Eine routinierte Rentnercombo zeigt der Jugend, was eine Harke ist, verschafft sich vor dem jungen Gemüse einen glamourösen Auftritt und bringt das Festival so souverän zur Landung wie Eastwood und seine alten Jungs ihren lädierten Space Shuttle.

Oder so: Die Jugend zeigt den Alten, dass es in der Welt auch andere Probleme gibt als den Konsumfrust amerikanischer Hausfrauen, die Neurosen von New Yorker Intellektuellen bzw. die kriminellen Triebe einer gelangweilten Schokoladenfabrikantin in der französischen Schweiz. Am Festivalende sitzen die jüngeren Regisseure am Steuer, während die alten schön brav und verschüchtert auf dem Rücksitz kauern.

Leider kam alles anders: Am Ende saß irgendwie keiner mehr vorn, die Filmbiennale schaltete den Autopiloten ein, läpperte ansonsten still vor sich hin und die Jury traf eine nicht besonders aufregende, aber ehrenwerte Entscheidung. Was war los? Mit formaler Beständigkeit und altbekannten Themen hatten die Veteranen des Autorenkinos bei den 57. Filmfestspielen von Venedig nicht mehr viel zu sagen. Dafür drängte sich ein anderes Kino in den Vordergrund. Engagiert, offen für politische Wirklichkeiten und mit einem mehr oder weniger dokumentarischen Blick, der sich instinktsicher auf die Problemzonen dieser Welt richtete: Drogenkriege, schwule Prostitution und die geradezu apokalyptische Gewaltbereitschaft der Ghettokids von Medellín in Barbet Schroeders „La virgen de los sicarios“. Mordende Hindu-Extremisten und entmündigte Frauen in „Uttara“, dem indischen Wettbewerbsbeitrag von Buddhadeb Dasgupta (Regiepreis). Coming-out, Diskriminierung und unglückliches Exil des schwulen kubanischen Schriftstellers Reinaldo Arenas in Julian Schnabels „Before the night falls“ (Großer Preis der Jury). Zwischen dem Alltag der Sexarbeiterinnen von Hongkong in Fruit Chans „Durian, durian“ und dem Schicksal eines chinesischen Propagandatheaters in den 80er-Jahren („Plattform“ von Jia Zhangke) gab es sogar noch jede Menge weitere Filme, für die sich garantiert eine ordentliche Jurybegründung gefunden hätte. Nur richtiges Kino war nicht dabei.

Den formalen Kick, der den Eindruck zur Erinnerung und den Blick zum Bild macht, schaffte keiner dieser Filme. Im Rückblick wirkt das Festival am Lido wie der Zeitraffer einer transkontinentalen Kamerafahrt über die einschlägigen Pilgerstätten des kulturkritischen Elendstourismus. Und als sei allein schon die eigene Vision etwas politisch Unkorrektes, schreckten auch die jüngeren Regisseure vor jeder emphatischen Wahrnehmung zurück. Man muss nicht gleich von einer Krise des Kinos reden, aber eigentlich ist es schon erstaunlich, dass ein 34-jähriger Regisseur wie João Pedro Rudrigues, der von den abgefahrenen Obsessionen eines polymorph-perversen Müllmannes in Lissabon erzählt, anscheinend keinen Gedanken auf die Form seines Films verschwendet. Oder dass der gerade dreißigjährige Chinese Jia Zhangke drei Stunden lang von den 80er-Jahren als einer für China politisch entscheidenden Zeit erzählt, ohne sie in irgendeiner Weise fassbar zu machen.

Wenn es also schon keinen besten Film gibt, dann muss man natürlich den mutigsten prämieren. Der Goldene Löwe für Jafar Panahis „Der Kreis“ geht letztlich auch an alle Frauen, die im Iran im Gefängnis sitzen, einen Arzt um eine Abtreibung anflehen oder auch einfach nur ein Plätzchen für eine heimliche Zigarette suchen. Und natürlich an die Prostituierte, die am Ende seines Films ganz in sich selbst versunken raucht. In diesem einen Fall reichte dann wirklich das Thema, um den Blick zum Bild werden zu lassen.