Trennung auf Leben und Tod

Geht es nach dem Willen der Ärzte, sollen die siamesischen Zwillinge Jodie und Mary operativ getrennt werden. Für eines der beiden Mädchen bedeutet dies den sicheren Tod

In London haben derzeit drei Lordrichter einen spektakulären Fall zu entscheiden, der, obwohl er beispiellos scheint, für die Entwicklung des Rechts grundsätzliche Bedeutung bekommen könnte. Es geht um die siamesischen Zwillinge, die unter den Namen Jodie und Mary bekannt geworden sind. Die wenige Wochen alten Kinder teilen sich Herz und Lunge.

Nach Auffassung der Ärzte im Manchester-Klinikum des National Health Service können die beiden am Oberkörper zusammengewachsenen Kinder in ihrer gegenwärtigen Lage nicht überleben. Die Ärzte wollen sie deswegen trennen – eine Operation, die, wenn sie gelingt, den sicheren Tod von Mary zur Folge haben wird und Jodys Leben möglicherweise retten kann.

Die Eltern der beiden Kinder sind bekennende Katholiken, die vor der Geburt aus einem nicht näher bezeichneten armen osteuropäischen Land nach Großbritannien gereist sind, um dort für ihre Kinder die beste medizinische Versorgung zu bekommen. Die von den Ärzten geplante operative Trennung der beiden Säuglinge lehnen sie aber entschieden ab: Mary zu töten, um Jodies Leben zu sichern, widerspricht ihrer Meinung nach Gottes Willen. Außerdem befürchten sie, dass Jodie, wenn sie überlebt, schwer behindert sein wird und wegen der schlechten medizinischen Versorgung in ihrem armen Heimatland kein gutes Leben führen können wird.

Die Mediziner der Klinik akzeptieren die Entscheidung der Eltern nicht. Sie sind deswegen vor Gericht gezogen, um die Erlaubnis für die folgenreiche Operation zu bekommen. Der Richter in der ersten Instanz hat den Ärzten freie Hand gegeben: Da ohne Operation beide Kinder sterben, so seine Argumentation, sei der Eingriff, der zur Folge habe, dass eines am Leben bleibt, die bessere Wahl. Das Leben von Mary, dem Zwilling, der geopfert werden soll, haben Zeitungskommentatoren und Ärzte argumentativ assistiert, sei ohnehin nicht lebenswert: Ihr Gehirn sei nicht voll entwickelt und sie habe zudem auch noch weitere Behinderungen.

Die Eltern sind gegen diese Entscheidung vorgegangen. Wenn die drei Lordrichter, die jetzt mit dem Fall beschäftigt sind, den Medizinern den Eingriff mit der sicheren Nebenwirkung Tod ebenfalls gestatten, wollen Mutter und Vater notfalls bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ziehen, um zu verhindern, dass gegen ihren Willen vorgegangen wird.

So sympathisch und unmittelbar einleuchtend das Beharren der Eltern auf ihrem Entscheidungsrecht ist, so fragwürdig erscheint es auf den zweiten Blick. In Fällen, in denen Eltern beispielsweise aussichtsreiche Krebsoperationen bei ihren Kindern nicht durchführen lassen wollten, haben in mehreren europäischen Ländern die Gerichte zugunsten der Ärzte entschieden, die das Leben der Kinder durch einen operativen Eingriff retten wollten.

Im deutschen Recht sichert der Paragraf 1666 des Bürgerlichen Gesetzbuches BGB Kinder gegen die Gefährdung ihres Wohls durch missbräuchliche Ausübung der elterlichen Sorge. Warum sollten also Eltern von siamesischen Zwillingen das Recht haben, eine möglicherweise lebensrettende Operation zu verweigern? Dass damit ein Schicksal beeinflusst wird, das sie für gottgewollt halten, kann an diesem Vorbehalt nichts ändern: Eine wenige Wochen altes Kind hat nicht den Glauben seiner Eltern, deren religiöse Überzeugungen müssen angesichts seines Rechts auf Leben zurücktreten.

Aber auch wenn man den Eltern kein Recht darauf zugesteht, ihrem Kind eine lebensrettende Operation zu verweigern, ist das Dilemma der britischen Richter nicht gelöst – denn die möglicherweise lebensrettende Operation, die sie anordnen müssten, kostet auch das Leben eines anderen Menschen. Einen Menschen zu töten ist aber in den westlichen Rechtssystemen allenfalls zu rechtfertigen, wenn eine Notwehrlage vorliegt oder, und auch das ist umstritten, wenn dieser Mensch seinen Tod selbst herbeiführen wollte – beispielsweise um einen Sterbeprozess abzukürzen. Beides ist hier nicht gegeben. Mary lebt, auch wenn sie möglicherweise keine lange Lebensperspektive hat. Sie zu töten, indem man sie im Verlauf einer Operation von Herz und Lunge trennt, die sie gemeinsam mit ihrer Schwester Jodie nutzt, wäre also nach ganz überwiegender Meinung nicht zu rechtfertigen.

Würden sich die Eltern oder die Ärzte entscheiden, diese Operation trotzdem durchzuführen, könnte ein Gericht, das anschließend über den Fall zu entscheiden hätte, angesichts der außerordentlichen Umstände trotz des verwirkten Unrechts möglicherweise entscheiden, dass die Beteiligten ohne Schuld gehandelt haben und deswegen von Strafe absehen. Rechtswidrig bliebe die Tat in so einem Fall aber auch, wenn kein Schuldspruch erfolgte. Und das ist gut so: Auch wenn der Schutz, der menschlichem Leben zukommt, in den westlichen Gesellschaften längst nicht absolut ist, so kann doch ein Aufrechnen von menschlichem Leben gegeneinander nicht als rechtmäßiges Verhalten akzeptiert werden. Denn: Die Grundlage unseres Rechts, die Überzeugung nämlich, dass alle Menschen gleich seien, darf nicht zugunsten einer hierarchischen Vorstellung vom Wert menschlichen Lebens aufgeben werden.

Was sich in London derzeit abspielt, ist aber noch brisanter als das soeben Erörterte – denn dort handeln und entscheiden eben nicht die Eltern oder die Ärzte in einer unaufschiebbaren und nicht befriedigend zu lösenden Notsituation. Dort mühen sich nicht Bürger um einen Ausweg, denen man im Nachhinein zubilligen könnte, dass sie zwar etwas Falsches getan haben, nämlich einen Menschen zu töten, aber dass sie das in einer extremen Konfliktsituation getan haben, unter hohem Druck, aber ohne gute Alternative.

In London verhandeln Lordrichter, deren Urteil grundsätzlichen Charakter und ein hohes Maß an allgemeingültiger Autorität haben wird. Sie setzen sich zwar mit einem einzelnen Geschehen auseinander, aber sie fällen eine Entscheidung, die Recht setzt – und damit etwas Allgemeingültiges. Kämen sie in ihrem Urteil aber zu dem Ergebnis, dass die Operation, die Marys Tod sicher herbeiführen wird, durchgeführt werden darf, um Jodies Leben zu erhalten, würde damit – um einem anderen zu helfen – die Tötung eines Menschen, der niemanden angegriffen hat, für den der Tod selbst, wie man es auch dreht und wendet, nichts Positives, keinen eigenen Wert hat, nicht als Unrecht, sondern als rechtmäßiges Handeln qualifiziert.

Für die Entwicklung des Rechts in den Zeiten der Bioethik wäre das ein fatales Signal: Das menschliche Leben wäre damit dem Pragmatismus restlos anheim gegeben und würde im kritischen Fall zur verrechenbaren Größe. Die Richter würden im Ernstfall auch in einem Staat, der keine Todesstrafe kennt, zu Herren über das Leben, die nicht nur im Nachhinein ein Geschehen strafrechtlich bewerten, sondern im Vorfeld eine Tötung legitimieren können. OLIVER TOLMEIN

Hinweise:Warum sollten Eltern das Recht haben, eine möglicherweise lebensrettende Operation zu verweigern?Die Richter würden im Ernstfall auch in einem Staat, der keine Todesstrafe kennt, zu Herren über das Leben