36 Jahre zum Quadrat

■ Das Museum Weserburg zeigt das Bild „Genesis“, an dem der Künstler Karl Gerstner sein halbes Leben gearbeitet hat

Malerei ist ein schmutziges Geschäft. Und gerade Ölfarbe geht ja selbst bei der 90-Grad-Kochwäsche so furchtbar schlecht wieder raus. Aber Flecken im Künstlerhemd, in der Künstlerinnenhose und auf der KünstlerInnenpalette sind der sichtbare Preis einer Exis-tenz im kreativen Chaos. Es sei denn, man heißt Karl Gerstner. Dessen Künstlerpalette sieht so ordentlich aus, als würde Meister Propper in seinem Atelier zur Untermiete wohnen: Sauber gestapelte Pappbecher türmen sich neben penibel beschrifteten Gläsern mit Farbe, das altertümliche Farbmischgerät „Mettler PC 2000“ und eine Farbbrille deuten an, dass hier aber nichts dem Zufall überlassen wird, und nur das ein oder andere Kleckschen auf der weißen Palettenoberfläche verrät, dass dieses Arrangement nicht bloß dekorativen Zwecken gedient haben kann.

Puh, ist man da geneigt so drinnen bei sich selbst zu denken, puh, der Gerstner ist bestimmt so einer, der malt den ganzen Tag akkurat geeckte Quadrate vor sich hin, und manchmal sind die Quadrate weiß, manchmal schwarz. Stimmt nicht ganz, denn der Schweizer Künstler Karl Gerstner hat das in der Vergangenheit nur jeden zweiten Tag getan, weshalb er bloß 36 seiner inzwischen 70 Lebensjahre darauf verwandt hat, sein überwiegend schwarz-weißes Opus magnum „Genesis“ zu erstellen. Die restliche Zeit war Gerstner allerdings auch nicht untätig, sondern hat sich einen international exzellenten Ruf als Typograph und Werbegraphiker erarbeitet. Und wer weiß, wenn sein ebenfalls Schweizer Künstlerfreund Daniel Spoerri ihm nicht seine Palette geklaut und dem Neuen Museum Weserburg mit dem Titel „Palette Karl Gerstner: Hundertstelgrammgenau geklebt“ (hängt im 3. Stock!) als Kunstwerk untergejubelt hätte, wäre der Gerstner vielleicht auch schneller fertig geworden.

So sind's halt 36 Jahre geworden, verteilt auf das schwer zu übersehende Format 288 x 567 Zentimeter. Für so viel Lebenszeit ist „Genesis“ auf den ersten Blick etwas dröge ausgefallen – jede Menge Quadrate schieben sich von links nach rechts übers Spielfeld, zwischendrin sorgen ein Silberstreif, ein Hundepärchen, ein arg verwackeltes Gerstnerporträt, zwei karierte Riesenblasen und ein paar Farbstreifen für etwas Abwechslung. Wenn man zu nah heran geht, hüpft die überforderte Netzhaut schmerzvoll im Quadrat, und aus der Ferne entgehen einem allerhand Details wie ein Schachbrett oder jene kleine Hommage an die Schweizer Nationalflagge.

Insgesamt 21 Bilderätsel hat Gerstner auf „Genesis“ verteilt. Anspielungen auf die bewunderten Künstlerkollegen Marcel Duchamp und M.C. Escher finden sich ebenso wie Hinweise auf die Farbenlehren Goethes und Newtons sowie der vierfache Versuch, die Quadratur des Kreises hinzubekommen. Vom Urknall bis zum schwarzen Loch erzählt der von der Op-Art kommende Rationalist Gerstner die Entwicklung der Welt als optische Reise durch die Geschichte des Sehens, die aus dem grauen Nichts zur Ordnung fand, um womöglich wieder im Chaos zu versinken.

Ein wenig didaktisch kommt Gerstners Schautafel schon daher, wirbt mit optischen Tricks und mathematischen Prinzipien um die Gunst des kunsthistorischen bewanderten Kreuzworträtselfans, den er zu bezirzen sucht durch eine Mischung aus visuellen Effekten und bedeutungsschwangerer Metaphorik. Andererseits: Warum nicht mal aus diesem Grund ins Museum gehen. Eindrucksvoll ist diese Quintessenz der letzten zwei Jahrhunderte bildnerischen Denkens allemal. Franco Zotta

Gerstners Bild und die dazu gehörigen Entwürfe sind bis zum 29.10. im Museum Weserburg zu sehen. Infos gibt es unter Tel.: 59 83 90 oder im Internet: www.nmwb.de