Alle Ampeln stehen auf Grün

Heike Drechsler (35), seit vollen 20 Jahren in der Weitsprung-Weltklasse, wird von ihren Konkurrentinnen schon „alte Kuh“ genannt. In Sydney will sie ihre fünfte Olympiamedaille abgrasen

von HARTMUT METZ

„Die alte Kuh sollte endlich aufhören!“, lästerte die italienische Weitspringerin Fiona May schon 1995. Trotz aller Verletzungen in den vergangenen fünf Jahren hat „die alte Kuh“ noch immer nicht aufgesteckt, im Gegenteil: In Sydney will sie ihre fünfte Medaille abgrasen. Und besondere Freude würde es der „alten Kuh“ machen, Fiona May einmal mehr zu schlagen. Aus gutem Grund: „Sie ist danach immer sehr, sehr deprimiert“, stellt Heike Drechsler amüsiert fest und ergänzt mit der Gönnerhaftigkeit einer Welt-Leichtathletin des Jahrhunderts, „aber ich verstehe sie auch: Außer einmal bei der WM war immer eine vor ihr.“

Als schärfste Rivalin in Australien wertet die 35-Jährige aber nicht Fiona May, die Bulgarin Iva Prandschewa oder etwa Marion Jones. Am meisten Respekt bekundet die Karlsruherin vor der Russin Tatjana Kotowa. „Keine außer ihr war in dieser Saison konstant. Sie ist stark zu beachten, da sie bereits mehrfach bei komplizierten Bedingungen über sieben Meter sprang.“

Die sieben Meter! Ein leidiges Thema für die Weitsprung-Olympiasiegerin von 1992. Seit 20 Jahren steht Heike Drechsler unter den Top 11 der Weltrangliste. „Heike ist in sehr guter Form, läuferisch wie von der Kraft her“, befindet Trainer und Lebensgefährte Alain Blondel. Aber warum bleibt die fünffache Weltrekordlerin seit zwei Jahren unter sieben Metern? „Heike setzt sich selbst zu sehr unter Druck“, meint der Zehnkampf-Europameister von 1994 und setzt fort, „alle Ampeln stehen bei ihr auf Grün. Der Knoten wird platzen, wenn sie genügend Abstand nimmt und mit Spaß und Lust springt.“ Lust will sich bei Heike Drechsler aber nicht so recht einstellen, solange sie das Gefühl beschleicht „bei meinem Anlauf zu viel zu arbeiten und mein Absprung dadurch nicht perfekt ist. Im Wettkampf mache ich dumme Fehler und übersteuere.“

Gelingt der 142. Wettkampf über die „Schallmauer nur einmal“, da sind sich der Franzose und die Athletin von ABC Ludwigshafen einig, „dann kommen automatisch die Lockerheit und weitere weite Sätze“. Um zum zweiten Mal Gold nach 1992 zu fliegen, seien 7,10 bis 7,20 Meter erforderlich, schätzt die dreimalige Weltmeisterin. Nur Vierte will sie bloß nicht werden. „Furchtbar! Dann lieber Fünfte!“ Furchtbar war auch die Einschätzung ihres erstes Trainers. Der fand sie ungeschickt, eckig in den Bewegungen und vor allem begriffsstutzig – was das scheinbare Untalent nicht hinderte, als 16-Jährige 6,91 Meter zu springen und als „Pummelchen von Jena“ erstmals DDR-Meisterin zu werden. Ihre ersten Spiele in Seoul 1988 konnte Heike Drechsler trotz zweier Bronzemedaillen über 100 und 200 Meter sowie Silber im Weitsprung „nicht richtig genießen. Fünf Tage vorher hatte ich einen Hexenschuss, dann musste ich zehnmal an den Start. Der Erfolg war schon da, aber wenn du im DDR-System kein Gold holtest, warst du eine unter vielen. Die Funktionäre fingen dann gleich an zu kritisieren . . .“ 1992 erfüllte sie sich den „Traum vom Olympiasieg. Ich konnte das Gefühl richtig ausleben, mit Freunden zu feiern. Und das Jahr danach ist man gefragt.“

Das große Ziel Sydney vor Augen, bedrückt die aufgeflammte Diskussion um das Ende der Zusammenarbeit mit Alain Blondel überhaupt nicht. Während ihr Lebensgefährte missmutig knurrt („Ich war drei Jahre lang erfolgreich ihr Trainer, und wir ziehen das bis zum 5. Oktober durch, fertig.“), erheitert die Mutter eines Sohnes die Medienresonanz darauf. „Man geht sich halt manchmal auf die Nerven. Deshalb kam mir spontan die Änderung in den Sinn. Plötzlich aber hieß es Trennung! Die Bunte hat bei mir angerufen und wollte mehr darüber erfahren. Ich habe die nur gefragt, ob sie nicht das Kleingedruckte gelesen haben!“ Weil sich die „Scheidung“ aber nicht auf den privaten Bereich bezog, verloren die bunten Blätter rasch das Interesse.

„Im nächsten Jahr wird sich Alain beruflich mehr engagieren, und ich hoffe auf neue Reize durch einen Trainerwechsel. Mein alter Trainer, der Erich (ihr Ex-Schwiegervater Erich Drechsler), wird mir sicher weiter helfen. Gute Trainer gibt es in Deutschland genug.“

Im nächsten Jahr will sich Drechsler ihrer alten Liebe Siebenkampf widmen. Aufhören wird sie auf keinen Fall. Besonders nicht beim Gewinn der Weitsprung-Goldmedaille. „Da wäre man ja dumm! Danach ist man gefragt wie nie!“

Heike Drechsler ist schließlich keine blöde Kuh.