Die Wissenschaft in der Familienpflege

Gegen das Misstrauen machen sich die Nachkommen der Vordenker des Ordoliberalismus um das Erbe verdient

In der amerikanischen Soziologie spielt die Unterscheidung zwischen ascription und achievement eine große Rolle. Es geht um die Frage, auf welche Weise Menschen zu Status kommen: unverdient durch Geburt oder verdient durch Leistung. Im ersten Fall nimmt die Gesellschaft eine auf Herkunft beruhende Zuschreibung vor; im zweiten Fall würdigt sie die eigene Anstrengung des Individuums. Je moderner eine Gesellschaft, desto mehr neigt sie dazu, ihre Statushierarchie an die persönliche Leistung zu knüpfen.

Man sollte deshalb annehmen, dass der angeborene Status heute keine Rolle mehr spielt – oder jedenfalls nur in Bereichen, die aus der Vormoderne hereinragen, nicht aber in Bereichen, die der Moderne angehören, nicht also im Bereich der Wissenschaft. Hier qualifiziert man sich nicht durch die Abstammung von einem großen Wissenschaftler, sondern durch eigene Leistung. Legitime Nachfolger von Gelehrten sind nicht seine Kinder und Enkel, sondern die ausgezeichneten Schüler: diejenigen, die ihr Werk mit Schweiß bearbeitet und es in die Nachwelt tradiert haben: achievement.

Nun kommt es aber immer wieder vor, dass eine Vermischung eintritt: dass die leiblichen Nachkommen dieselben sind, die sich dem Werk eines Gelehrten mit Schweiß widmen. Dann wird die Lage kompliziert. Denn so eindeutig befinden wir uns nicht in der modernen Gesellschaft, dass ascription nicht doch weiterhin eine Rolle spielte. Der das Werk seines Vorvaters bearbeitende Abkömmling steht mit den anderen Forschern nicht in gleicher Reihe, sondern erfährt eine besondere Zuschreibung – sei es zu seinen Gunsten, sei es zu seinen Ungunsten. Zu seinen Gunsten, wenn die wissenschaftliche Welt seiner Interpretation des Werkes aufgrund der Verwandtschaft eine höhere Autorität zuschreibt; zu seinen Ungunsten, wenn sie, um diesen Fehler zu vermeiden, eine übertriebene Gegenbewegung vornimmt und die Arbeit des Nachkommen mit einem unverdienten Soupçon versieht.

Den ersten Fall – die falsche Legitimation durch Verwandtschaft – hat die Geistesgeschichte in geradezu traumatischer Weise erlebt, als Nietzsches Schwester Elisabeth Förster aufgrund ihres Rassismus eine gezielte Auswahl und Zusammenstellung der Schriften ihres Bruders vornahm, die ihn zu einem Vordenker des Faschismus machte. Den zweiten Fall – die unberechtigte Delegitimierung, den die mögliche Zuschreibung übertrieben kompensierenden Soupçon gegen den Nachkommen – habe ich hier im Auge, und zwar im Falle des Ordoliberalismus.

Dieser in den Dreißigerjahren, im Widerstand gegen Hitler, entwickelten Gedankenwelt kann man heute nur nahe kommen, wenn man sich auf ascription verlässt, auf die der Verwandtschaft zugeschriebene Autorität, und dem achievement misstraut, den Bemühungen, die in den Universitäten und Instituten vorgenommen werden. Denn hier besteht die Merkwürdigkeit, dass die Botschaft der Gründerväter nur noch in deren Familien gepflegt wird.

Der Ordoliberalismus behauptet, dass die Marktwirtschaft, wenn man ihr freien Lauf lässt, wirtschaftliche Verklumpungen – Monopole, Oligopole und Kartelle – bildet, die keine Konkurrenz mehr zulassen und das freie Spiel der Kräfte, das der Vorzug dieser Wirtschaftsform ist, behindern und auf die Dauer lahmlegen. In den Universitäten und Instituten beruft man sich zwar gern auf diese Lehre, fühlt sich aber angesichts immer neuer Elefantenhochzeiten, immer neuer Abstützung wirtschaftlicher Unternehmungen durch Staatsgelder nicht zum Protest aufgerufen. In den Wissenschaften ist der Ordoliberalismus totes Bildungsgut. Seine Koryphäen – Eucken, Rüstow, Röpke, Böhm – sind in der Welt des achievement zu Zierbüschen degradiert, die bei Festakten still und stumm als Pflanzenkübel herumstehen und eine gehobene Stimmung verbreiten. Der antimonopolistische Grundgedanke des Ordnungsliberalismus wird in seinem Veränderung heischenden Charakter heute nur noch von den Familien gepflegt.

Um so stärker wirkt auf Seiten des achievements der kompensierende Soupçon entgegen. Euckens Enkel Walter Oswalt etwa hat sich bei dem Versuch, die reine Lehre seines Großvaters in eine fusionsfreudige Gegenwart zu tragen, gegen Verdächtigungen zu wehren, unter denen die durch achievement ausgezeichneten Gelehrten nicht zu leiden haben. Obwohl er ein durch eine Dissertation über den klassischen Liberalismus promovierter Philosoph und Universitätsdozent ist, wird er im Wirtschaftsteil der FAZ verhöhnt, weil er in seiner Jugend eine Gärtnerlehre gemacht hat. Statt dass er als Kenner des Liberalismus des 18. Jahrhunderts zu Rate gezogen würde, bringt man gern in Erinnerung, dass er vorzeiten als Grünen-Aktivist über die Stränge geschlagen ist. Die Rivalität des achievements gegen die Konkurrenz der ascription schlägt in seinem Fall voll durch.

Zwar erfährt Eucken viel Beachtung – in diesem Jahr wurde groß gefeiert, dass er seit fünfzig Jahren tot ist –, aber eher als Konifere denn als Koryphäe. In die Eingangshalle des nach ihm benannten Freiburger Instituts wurde ein Porträt Friedrich A. Hayeks gehängt; erst nach geraumer Zeit wurde man sich der Peinlichkeit bewusst und hängte ihm Eucken gegenüber. Dessen Schreibtisch, seine Bibliothek und zurückgelassenen Schriften fanden im Institut keine Verwendung und wurden der Familie ungeordnet zur weiteren Verwendung überlassen. Mit diesem Material hat der Enkel Oswalt in bewusster Alternative zum Freiburger Institut das „Walter-Eucken-Archiv“ gegründet, aus dessen Bestand er bisher unveröffentlichte Schriften Euckens herausgibt. Nach dessen „Ordnungspolitik“ erscheint nun ein Rüstow-Bändchen.

Das Eucken-Institut hingegen gibt zwei Schriftenreihen heraus, in denen Friedrich A. Hayek mit sieben eigenen und sechs ihn erörternden Texten erscheint, während es in diesen, Euckens Namen führenden Reihen weder von noch über ihn auch nur eine einzige Monographie gibt. Hayek aber muss man als den Antagonisten der Ordoliberalen verstehen. Er sah Monopolisierung als notwendige Erscheinungsform eines gesunden Kampfes ums Dasein an.

Ascription oder achievement? Gegenüber beiden Seiten ist Misstrauen angebracht: Gegenüber der Seite der ascription besteht der Verdacht einer Trübung der Objektivität infolge des mangelnden Abstandes zur Sache, infolge einer zu großen Vernarrtheit in das Werk des Vorvaters; der Seite des achievements aber ist zu misstrauen, wenn die dem Mainstream widersprechende Botschaft Karrierebedürfnissen im Wege ist. Denn so ist es heute in den Wirtschaftswissenschaften: Wer nicht ultraliberal eingestellt ist, kommt nicht weit. Hinzu kommt die Tatsache der Förderung der Forschung durch die Wirtschaft. Die Forschung hat sich finanziell von Kreisen abhängig gemacht, die an dem antimonopolistischen Impuls des Ordoliberalismus nicht interessiert sein können. Während die Angehörigen der Familien Rüstow und Eucken stolz sind auf ihre persönliche Verbindung zu den Gründungsvätern des Ordoliberalismus, weist das Eucken-Institut stolz auf seine Förderung durch die Commerzbank hin. Auch hier ist ein Soupçon berechtigt. SIBYLLE TÖNNIES