Der Pate und die Enkel des Samplings

Urväter der Love Parade: Pierre Henry, der Begründer der Musique concrète, darf sich heute als Pionier der elektronischen Musik feiern lassen. Zeitgemäße Remixe seines Oeuvres lassen den Crossover von der Klassik zum Club Wirklichkeit werden, die Plattenfirmen nennen es schlicht Synergie

Vor dem Centre Pompidou in Paris gab Pierre Henry im Juli ein Konzert, mit Lodenmantel und Lotsenmütze in sein Mischpult vertieft

von MAX DAX

Großer Alarm im ersten Arrondissement von Paris: Drei Stockwerke des Centre Georges Pompidou waren mit großen Lautsprechern bestückt worden, und auch die dem Kulturzentrum gegenüberliegende Seite der Place Beaubourg war von eindrucksvollen Boxentürmen gesäumt. Der ganze Aufwand galt einer lebenden französischen Legende: Pierre Henry, dem 73-jährigen Komponisten und Erfinder der Musique concrète. Einen Tag nach dem Nationalfeiertag der Franzosen, der mit einem endlosen Picknick entlang dem einstigen nullten Längengrad begangen worden war, ließ sich die Pariser Stadtverwaltung nicht lumpen und bot den ziellos umherstreifenden Touristen und Fans des alten Herren nach dem kredenzten Brot nun auch die sprichwörtlichen Spiele.

Die Spiele waren Musikspiele. Und die Musik kam vom Band, genau gesagt von digitalen Tonspuren, die Pierre Henry, auf einer thronartigen Empore stehend, für das Volk zusammenmischte. Unter trübgrauem Himmel, durchgeschüttelt von Windböen, aber geschützt von Lodenmantel und Lotsenmütze, stand Henry, wie ein alter Kapitän mit weißem Rauschebart, vertieft am Mischpult, versunken in seine Kompositionsprogramme. Dann und wann blickte der kleine Mann durch seine dicken Brillengläser auf die große Menschenmenge, die sich vor dem Centre Pompidou versammelt hatte, wahrscheinlich innerlich errötend, und beugte sich wieder über seine Knöpfe.

Dass „Tam Tam du Merveilleux“, die neueste Techno-Komposition dieses Vorreiters der elektronischen Musik, über weite Strecken wie schon etliche Male gehört, überambitioniert und wie künstlich verkompliziert wirkte und nicht, wie versprochen, visionär und modern, ließ zweierlei befürchten. Zum einen vermag es Henry offenbar nicht, sein schöpferisches Erbe abzustreifen, das ihn als Geräuschdekonstrukteur und brutalen Cutter asymmetrischer Rhythmen ausweist. Statt linear zu komponieren – und damit in der Rolle des Künstlers zu bestehen, der Stadion und Studio gleichermaßen zu bedienen weiß –, verwirrte der Lotse am Mischpult mit einer verschachtelten Collage aus emotionslosen House-Beats.

Zum anderen offenbarte gerade die Wahl von Sounds und Beats jüngeren Datums als Quelle der am 15. Juli uraufgeführten Komposition einen unbändigen Wunsch nach Anschluss an die explodierende, elektronische Musikwelt von heute.

Je näher das Ende der zweistündigen Veranstaltung rückte, desto mehr glich Henrys Konzert einem der unzähligen Laster mit Sound System auf der Love Parade. Die von den Londoner Propellerheads zur Verfügung gestellten Beats wurden gerader und gerader, und folgerichtig tanzte auch der Platz.

Vielleicht ist der Zeitpunkt daher wohl gewählt, wenn dieser Tage eine bis dato unveröffentlichte Komposition Henrys von 1989 („10. Symphonie Remix“) und fast zeitgleich eine Kompilation mit Neubearbeitungen diverser seiner älteren Werke durch heute aktive Künstler („Variation“) veröffentlicht werden. Der gemeinsam mit Karlheinz Stockhausen als Pate des Samplings geltende Henry entzieht sich so geschickt einer Gegenüberstellung von Gegenwart und eigener Vergangenheit.

Während die „10. Symphonie Remix“ (im Original: „Remixe sa Dixieme Symphonie“), eine von Henry komponierte imaginäre zehnte Symphonie Beethovens unter Einbindung aller existierenden neun und selbst programmierter Techno-Beats, wahrscheinlich die Geister spalten wird, so folgen die elf Tracks auf „Variation“ den ungeschriebenen Gesetzen heutiger Club-Musik. Die von DJ Koze, Gabor Deutsch, Fatboy Slim oder William Orbit zusammengesampelten Variationen der von Pierre Henry in den Fünfziger- und Sechzigerjahren veröffentlichten Originale bestätigen weitgehend die Images ihrer Ersteller – in dem Sinne, dass Fatboy Slim böllert, während DJ-Koze extrovertiert Klänge schichtet. Möglicherweise aus eben diesem Grund spielen etliche der Remixer überraschend groß auf: St. Germain etwa, das Jazz-House-Projekt des Franzosen Ludovic Navarre („Boulevard“), besticht in seiner Bearbeitung von „Jericho Jerk“ von 1967, gerade weil Navarre aus der Nummer einen typischen St.-Germain-Track gelötet hat – und so erfolgreich einer nahe liegenden Verkrampfung angesichts der musikhistorischen Bedeutung des Titels entging.

Für die deutsche Plattenfirma Pierre Henrys, die große Teile der Remix-Sammlung in Auftrag gegeben hatte, ist die Veröffentlichung der beiden Henry-Alben längst zu einer Prestigefrage geworden. Nachdem bei der Klassikabteilung der Universal-Filiale in Hamburg beschlossen wurde, künftig etwas jugendlicher auftreten zu wollen, hat das Segment „moderne Klassik“ einen neuen Anstrich bekommen – und steht unter Erfolgsdruck. Statt sich wie früher auf Mini-Auflagen und die üblichen verdächtigen Klassik-Einzelhändler zu beschränken, wird ein Klassiker wie Pierre Henry heute aggressiv vermarktet wie ein Popstar. Mit Erfolg übrigens: Die ebenfalls wieder veröffentlichte und seit langem nicht mehr erhältliche Single „Psyché Rock“ von 1967 ist letzte Woche auf Platz eins der deutschen Dance-Charts geklettert und hat sogar Madonna hinter sich gelassen.

Begründet wird das Engagement bei Universal mit der teilweise frappierenden Ähnlichkeit von „moderner Klassik“ und progressiver Club-Musik.

Vielleicht wird der mit aller Kraft ersehnte zweite künstlerische Frühling Pierre Henrys daher nicht in der für nächstes Frühjahr geplanten Veröffentlichung einer Gemeinschaftsproduktion seinen Ausdruck finden, auf der Kolaborationen Henrys unter anderem mit Roni Size, Orbital und Moby geplant sind.

Möglich wäre es, gesetzt den Fall, der Erfolg hält an, dass Henry als Testballon eines neuen Marketingkonzepts in der Klassik ein zweites Mal in seiner Karriere eine unverhoffte Vorreiterrolle zufällt. Das erste Mal war 1949: Da hatte Pierre Henry gemeinsam mit Pierre Schaeffer die Musique concrète erfunden.

Pierre Henry: „10. Symphonie Remix“ und „Variation“, Remixe von Fatboy Slim, Kojak, DJ Koze (beide Philipps Classics)