Vergessene Pioniere

Mehr als nur Erinnerungsarbeit: Peter Wintonicks Dokumentation „Cinéma Vérité“

Richard Leacock gestikuliert ungeduldig, schwärmt von den Möglichkeiten der digitalen Filmbearbeitung und von seinem Projekt, nun endlich einen Film explizit fürs Internet zu produzieren. Nichts Besonderes, derart euphorische Bekundungen hört man allenthalben. Aber Richard Leacock ist jetzt 79 Jahre alt, hinter ihm liegen 65 Jahre aktive Filmarbeit.

Er hat zuerst als Assistent von Robert Flaherty und später als wegweisender Dokumentarfilmer maßgeblich an der kinematografischen Kulturgeschichte mitgeschrieben. Heute lebt der gebürtige Amerikaner in der Normandie und denkt nicht daran, sich von seinen filmischen Utopien zu verabschieden. Würde man allerdings eine Umfrage unter Filmstudenten oder meinetwegen auch -kritikern starten, dürfte sein Bekanntheitsgrad in dieser Klientel kaum relevant sein. Von durchschnittlichen Kino-Konsumenten ganz zu schweigen. So ist das eben. Filmgeschichte offenbart sich als Geschichte von Ungerechtigkeiten, sei es der von Hollywood auf das Abstellgleis geschobene Montage-Pionier David Wark Griffith, das durch demütigende Geldsuche zur Untätigkeit verdammte Genie Orson Welles oder der vergessene Radikal-Surrealist Alejandro Jodorowsky. Ja, selbst Jean-Luc Godard, der in diesem Jahr 70 Jahre alt wird, istauf der Leinwand praktisch nicht mehr vorhanden. Epoche machende Leistungen und ihre Urheber geraten in Vergessenheit, ihre Innovationen werden jedoch vom Mainstream gnadenlos aufgesogen und domestiziert. Kein Werbespot und erst recht kein Musik-Clip kommt heute ohne verwackelte, Authentizität suggerierende Handkamera-Bilder aus. Private wie öffentliche Sender versuchen die drögen Themen ihrer Magazinbeiträge mit einer hypernervösen Kameraführung aufzupeppen. Niemand fragt, wo dieser Stil eigentlich herkommt und wann er kreiert wurde. Hong-Kong-Ikonograf Christopher Doyle war es jedenfalls ebenso wenig wie die skandinavischen Dogmatiker oder das Team von „The Blair Witch Project“.

Der Kanadier Peter Wintonick rekonstruiert nun in seiner Dokumentation „Cinéma Vérité“ die Geschichte jener gleichnamigen Bewegung, die diese Entfesselung der Kamera wesentlich vorangetrieben hat, und lässt damit einem wichtigen Kapitel der Kinematografie Gerechtigkeit widerfahren. Dabei handelt es sich freilich nicht um eine konkret benennbare Schule mit zielgerichteter Programmatik und verortbarem Epizentrum, sondern vielmehr um ein Phänomen, das nahezu zeitgleich in verschiedenen Regionen der westlichen Welt an die Oberfläche drängte (in Frankreich etwa unter dem englischen Label „Direct Cinema“, in den USA kurioserweise diametral dazu frankophil als „Cinéma Vérité“, in Kanada als „Candid Eye“ und in Großbritannien als „Free Cinema“ firmierend). In Wintonicks Film kommen viele der Veteranen zu Wort, neben Leacock auch Jean Rouch, Frederick Wiseman und D. A. Pennebaker; zahlreiche Ausschnitte aus deren wichtigsten Filmen machen Lust, die Originale in voller Gänze zu sehen.

Es wird aber auch immer wieder die Brücke zur Gegenwart geschlagen und damit der immense Einfluss auf die aktuelle Mediensprache belegt. „Cinéma Vérité“ erweist sich als Exkurs über das Selbstverständnis des Filmemachens und kommt auch ästhetisch als Vivisektion des eigenen Stammbaums daher.

Eine großartige Studie über die Obsession des Kinos, über damit verbundene Hoffnungen, Triumphe und Enttäuschungen. Pflichtprogramm für Cinephile.

CLAUS LÖSER

„Cinéma Vérité: Defining the Moment“ Ab 28. September im Eiszeit-Kino, Zeughofstr. 5, Kreuzberg, tägl. 20 Uhr