: Mexikos Abgesang
Ein Wandbild, wie mit der Leica fotografiert: Carlos Fuentes’ neuer Roman „Die Jahre mit Laura Díaz“ – Familiensaga und Geschichtsbilderbogenvon DIEMUT ROETHER
Mit dieser Reaktion hätte der Kandidat nicht gerechnet: Als Vicente Fox, der konservative mexikanische Präsidentschaftskandidat, im Wahlkampf leichthin verkündete, er wolle die mexikanische Erdölindustrie privatisieren, brach ein Sturm der Entrüstung in Mexiko los. Denn die staatliche Erdölindustrie ist ein nationales Symbol. Fox machte rasch einen populistischen Rückzieher – so war es doch gar nicht gemeint gewesen – und setzte sich in der Wahl am 2. Juli gegen den Kandidaten der seit 71 Jahren regierenden Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI) durch.
Bei seinem Landsmann Carlos Fuentes hätte Vicente Fox nachlesen können, was für einen Fauxpas er beging. In seinem jüngsten Roman beschreibt Fuentes, dass die Verstaatlichung der Erdölindustrie durch Präsident Lázaro Cárdenas in den Dreißigerjahren von den Mexikanern wie ein Nationalfeiertag begangen wurde: Die Kinder hatten schulfrei, und alle, die laufen konnten, versammelten sich auf dem zentralen Platz in Mexiko-Stadt, um den revolutionären Präsidenten zu feiern, „der die ausländischen Ausbeuter, die ewigen Blutsauger, die sich Mexikos Arbeit und Reichtum angeeignet hatten, in die Schranken gewiesen hatte: Das Öl gehört uns!“
Es steht jedoch zu befürchten, dass Fox gar nicht liest – schon gar nicht Fuentes, zumal der Autor, der im Sommer während seiner Lesereise in Deutschland die Literaturhäuser füllte, den konservativen Politiker als eine „Ausgeburt der Reaktion“ bezeichnete. Dabei könnte Vicente Fox durchaus dem Romanpersonal von Carlos Fuentes entstammen: Der hemdsärmelige ehemalige Coca-Cola-Manager, der nun versucht, ein Land so zu regieren, wie er früher sein Unternehmen geleitet hat, wäre ein lohnendes Sujet für den mexikanischen Romancier.
Fox könnte ein Nachkomme von Dantón López Díaz sein, dem Sohn der Titelfigur Laura Díaz im neuen Roman. Dantón ist ein Unternehmer, der sich mit dem System arrangiert, um in aller Ruhe seine Geschäfte zu machen. Ein Angepasster, der auch nicht protestiert, als sein eigener Sohn bei einer Demonstration von Polizisten erschossen und in ein anonymes Massengrab geworfen wird. Einer der vielen Toten in der Geschichte Lateinamerikas, die ohne Begräbnis bleiben.
Was Gabriel García Márquez für Kolumbien, ist der fast gleichaltrige Carlos Fuentes für Mexiko: mehr als ein Romancier. Ein Chronist. Einer, der die Stimme erhebt, das politische Gewissen der Nation. „Die Jahre mit Laura Díaz“ ist wie „Hundert Jahre Einsamkeit“ eine Familiensaga, die zugleich die Geschichte eines Landes erzählt. Doch mehr als bei García Márquez spiegelt sich bei Fuentes, der viele Jahre in den USA und Europa gelebt hat, die europäische und US-amerikanische Geschichte in der seines Landes.
Die spanischen Emigranten, denen Laura Díaz in einem Kaffeehaus von Mexiko-Stadt begegnet, erzählen von den Gräueltaten der spanischen Falangisten und dem Terror der europäischen Faschisten, aber auch von der Grausamkeit der Stalinisten. Ein Jahrzehnt später sind es amerikanische Emigranten, die in Mexiko Zuflucht finden: Filmschaffende aus Hollywood, die von McCarthy erbarmungslos verfolgt werden. Ausgerechnet die Drehbuchautoren und Produzenten, die mit ihren Hollywood-Mythen den amerikanischen Traum auf Zelluloid bannten, werden nun von den Kommunistenjägern als schlechte Amerikaner beschimpft.
Laura Díaz ist all diesen Männern Zuhörerin und Spiegel. Sie ist keine politische Aktivistin, die selbst in das Geschehen eingreift. Ihrem Enkel Santiago überlässt sie großzügig ihr Haus, als der sich mit seinem Vater überwirft, doch der Studentenbewegung, die Gerechtigkeit und Demokratie fordert, schließt sie sich nicht an. Sie ist die Zeitzeugin, die alles beobachtet und sich oft verzweifelt bemüht, das Geheimnis ihrer Mitmenschen zu ergründen, was sie für ihre Nächsten nicht unbedingt zu einer bequemen Partnerin macht. Erst kurz vor ihrem Tod lernt sie, dass es barmherziger ist, den Menschen ihr Geheimnis zu lassen.
Laura Díaz hat Carlos Fuentes als emanzipierte Frauenfigur angelegt, die sich zwar selbst gehört, doch andererseits bis ins Alter von Männern abhängig bleibt. In einer wenig glücklichen Ehe gelandet, findet sie Liebhaber, die ihr helfen, ihren Horizont zu erweitern und sich selbst treu zu bleiben – um den Preis, dass sie dafür ihre Söhne vernachlässigt. Erst mit 60 lernt Laura auf eigenen Füßen zu stehen, als die Spätberufene die Leica in die Hand nimmt, um die Stadt und ihre Bewohner, die sie so lange beobachtet hat, zu fotografieren. Mit diesen Aufnahmen steigt sie überraschend rasch in den Olymp der Fotografie auf und wird eine der renommierten Fotografen der Agentur Magnum.
In seinem Roman, der mit der Beschreibung eines Wandbilds von Diego Rivera in Detroit beginnt, zeichnet Carlos Fuentes die Geschichte Mexikos als monumentalen, übervollen Bilderbogen, in dem wenige Figuren ins Auge stechen. Dabei übertreibt und vereinfacht er vieles, wie Maler von Wandbildern es gerne tun.
Dass es eine 60-Jährige, die nie in ihrem Leben eine Kamera in der Hand hatte, binnen weniger Jahre zur Magnum-Fotografin bringt, ist eines dieser klischiert wirkenden Details – möglicherweise ist es aber auch eine kleine Verbeugung vor einer anderen großen mexikanischen Fotokünstlerin des 20. Jahrhunderts, Tina Modotti, die in dem Roman überraschenderweise ebenso wenig Erwähnung findet wie der Mord an dem russischen Exilanten Leo Trotzki.
Bei alldem erinnert Fuentes daran, dass das Mexiko der Dreißigerjahre ein sehr modernes, aufgeschlossenes Land war, von dem viele künstlerische und intellektuelle Impulse ausgingen. Diego Rivera und Frida Kahlo, mit denen Laura Díaz befreundet ist, sind nur zwei Mexikaner, deren Kunst weltweit Aufsehen erregte. Konsequent ist Fuentes auch in seiner Darstellung der gemeinsamen mexikanischen und nordamerikanischen Geschichte. In diesen historisch-politischen Passagen ist Fuentes’ Chronik sehr viel überzeugender als in ihren rein fiktiven Teilen. Die Familiensaga und auch die Figur der Laura Díaz wirken dagegen häufig manieriert und wenig glaubwürdig.
Nach der Wahlniederlage der PRI liest sich Fuentes’ Roman auch als Abgesang auf jenes System von Gefälligkeiten und Günstlingen, das das Land mehr als siebzig Jahre lang beherrscht hat. Doch Fuentes zeigt gleichzeitig, wie stark das „System PRI“ mit seinen „mexikanischen Verhältnissen“ in der Gesellschaft verwurzelt ist. Nach der Lektüre ist man umso gespannter, ob es dem Mann mit dem Cowboy-Image, Vicente Fox, tatsächlich gelingen wird, den Systemwechsel herbeizuführen.
Carlos Fuentes: „Die Jahre mit Laura Díaz“. Aus dem Spanischen von Ulrich Kunzmann. Deutsche Verlags Anstalt, München 2000, 560 Seiten, 49,80 DM
Hinweis:Erst mit sechzig Jahren lernt Laura auf eigenen Füßen zu stehen, als sie die Kamera in die Hand nimmt, um die Stadt und ihre Bewohner zu fotografieren
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen