Nebel im Kopf, Minze in der Soße

In einem Anfall von Leichtsinn düste unsere Autorin, ohne heimisches Carepaket,gen England. Gottlob: Sie ist gesund zurückgekehrt, ohne Hungerödem.Dafür mit einigen schmackeligen Highlights

von URSULA HEINZELMANN

Vorurteile sind wie ansteckende Krankheiten. Selbst gebildete Menschen sind befallen. Da ist deutscher Wein generell süß und gepanscht, der Afrikaner faul, der Amerikaner unkultiviert – und das Essen in England ungenießbar. Letzteres ist mein Lieblingsvorurteil. Sobald ich von meinem Reiseziel England erzähle, reagiert mein Gegenüber, als spräche ich von kulinarischem Überlebenstraining oder einer Abmagerungskur auf die ganz harte Tour. Wie groß die Kluft zwischen den Vorstellungen von englischer Küche und der Realität ist, wurde mir bei einer Ausstellung im Kenwoodhouse in Hampstead über „Britische Tisch- und Esskultur von 1600 bis 2000“ so richtig bewusst.

Hier hat der Essenshistoriker Ivan Day die Tischsitten seines Landes dargestellt – und die sind alles andere als fade, dafür inspiriert und geschmackvoll, vom königlichem Bankett 1698 bis zum Millenniumspicknick 2000. Ob ein ähnliches Vorhaben über Preußen vergleichbare Ergebnisse hätte?

Erschöpft vom genießerischen Prunk und natürlich hungrig lande ich im Tearoom. Nach den Unkenrufen der Lieben daheim müsste jetzt die grässliche Landung in der kulinarischen Realität des Hier und Heute stattfinden; doch der Salat mit pochiertem Lachsfilet ist köstlich, die Cannelloni am Nebentisch sehen gut aus, den Kuchen zu widerstehen ist eine echte Leistung.

Um es gleich vorwegzunehmen: Englisches Brot ist bis auf Ausnahmen für kontinentale Gaumen eine fade, labberige Masse. Auch Lamm mit Minzsoße finde ich pervers, wenn es sich um die schreiend grüne Version aus dem Glas handelt. Die Kombination datiert noch aus Zeiten, als streng schmeckender Hammel durch die Kräutersoße domestiziert werden musste. Inzwischen ist die Kombination ebenso exzentrisch wie Preiselbeerbirne zum Rehrücken. Aber sonst? Ich behaupte, in England kocht und isst man heute ebenso gut oder schlecht wie in anderen Ländern, Frankreich eingeschlossen!

Ich kann sie hören, die Protestschreie: Matschige Sandwiches mit Industriemajonäse, Frühstückswürstchen ohne Fleischanteil, zerkochte Gemüse, die nach Briefmarken schmecken, billigöltriefende Fish ’n’ Chips, und zu alledem keine andere Alternative als den Hungertod! Freunde, ich war in einem anderen Land.

Oft sind Schulferien oder Studienaufenthalte mit begrenztem Budget der Ursprung dieser Erfahrungen. Doch Imbissbuden waren auch in Deutschland nie der ultimative Gaumenkitzel. Und: In England wurde die Lebensmittelrationierung nach dem Krieg erst Mitte der Fünfzigerjahre aufgehoben. So blieb die Küche eine ganze Generation lang von Kargheit und Beschränkung geprägt.

Laut dem Kulturforscher Claude Lévi-Strauss „darf man hoffen, dass die Küche einer Gesellschaft eine Sprache ist, in der sie unbewusst ihre Struktur zum Ausdruck bringt“. Die englische Küche ist denn auch eine bodenständige. Philipp Harben schreibt in seinem 1953 erschienenen Band „Traditional Dishes of Britain“: „Bürgerliches Essen für einfache, arbeitende Menschen ist das Wesen der britischen Küche, das ist ihre Stärke, die auf der natürlichen Qualität einfacher Zutaten [beruht].“

Das ist das Kernproblem: Auch in England führte eine immer stärker industrialisierte Nahrungsmittelproduktion zu einer immer schwächeren Qualität. Jane Grigson, große englische Kochbuchautorin, schrieb schon 1974 in ihrem Standardwerk „English Food“: „Viele Dinge in unserem Vertriebssystem boykottieren heute geradezu ein einfaches, delikates Essen. Tomaten haben keinen Geschmack, Gemüse und Obst sind selten frisch. Käse werden vorgeschnitten und in Plastikfolie gefangen gehalten.“ Aber um die Klage historisch einzuordnen: Zur selben Zeit aß Westdeutschland Hawaiitoast!

Die britische Weinexpertin Jancis Robinson bestätigt unterdessen: „Küche und Restaurants (in England) hinkten bis in die Achtzigerjahre hinter dem Rest Europas her, aber der internationale Klatsch und Tratsch braucht immer schrecklich lange, um mit alten Klischees aufzuräumen. Erst in den Neunzigerjahren gingen die Veränderungen so rasant vonstatten, dass man sie nicht mehr ignorieren konnte.“

Das Angebot an Lebensmitteln hat sich tatsächlich enorm entwickelt. Supermärkte bieten ein überraschend gutes Niveau, und das Qualitätsbewusstsein der Engländer ist erstaunlich. Wein-, Ess- und Kochkolumnen sind in allen großen Tageszeitungen selbstverständlich, liefern Tipps und beißende Kritik. Wer es sich leisten kann, findet eine große Auswahl authentischer Lebensmittel, sei es von Direktvermarktern, Online-Shops wie Marchents.com oder Lädchen wie Neal’s Yard Dairy in Londons Covent Garden, einem winzigen Shop mit überwältigender Auswahl an Spitzenkäsen. Dorthin sollten alle Londonbesucher gehen, die immer noch meinen, Cheddar sei orangefarbener Plastikkäse und Stilton immer mit Portwein vermanscht.

Aber wo soll ich denn nun essen auf der Insel?, höre ich die Zweifler jammern. Um dieses Thema ein für alle Mal abzuhandeln: Erstens, das „große englische Frühstück“ findet nicht mehr statt, dafür ist es hundert Jahre zu spät. In Frühstückspensionen (Bed and Breakfast) wird zwar noch daran festgehalten, aber das ist eher britische Höflichkeit, um die Gäste nicht zu enttäuschen. Zweitens, der „Five o’Clock Tea“ heißt „Afternoon Tea“ und gehört in seiner aufwendigen Form ebenfalls zu den Reliquien aus viktorianischer Zeit. Wer seinen Teetraum wahr machen möchte, dem sei Brown’s Hotel in der Londoner Albemarle Street empfohlen – Reservierung, gesunder Appetit und stabile Kreditkartenlage sind anzuraten.

Für den kleinen Hunger zwischendurch gibt es bei Ketten wie Prêt à manger oder sogar in den Boots-Drogeriemärkten Sandwiches, von denen wir nur träumen können: „Green Thai Chicken Wrap“, „Peking Duck Roll“, „Smoked Salmon on Cream Cheese Bagel“ sind eine Sünde wert. Ja, Räucherlachs gibt es bei uns auch. Aber zwischen Räucherlachs und Räucherlachs liegt manchmal ein kleines Universum. Hausaufgabe für den nächsten Londonbesuch: eine Vergleichsverkostung durch das Angebot an Smoked Salmon. Selbst in Supermärkten wie Sainsbury’s oder Waitrose wird man seine erfreulichen Überraschungen erleben. Und wer einmal bei Fortnum & Mason den geräucherten schottischen Wildlachs des Hauses Forman, der letzten Fischräucherei im Londoner Eastend, gegessen hat, wird dies nie vergessen.

Aber die Zweifler fragen: Wo sind die Restaurants? Auf zum French House Dining Room in Soho, Dean Street: Moderne britische Küche von Fergus Henderson. Tolles Schweinernes kommt auf den Teller, vom Schweinskopf bis zum Schwänzchen. Die Rochenkartoffelterrine ist ebenfalls gelungen, der Käse kommt von Neal’s Yard. Die Atmosphäre kann es mit jeder Pariser Brasserie aufnehmen, die Preise sind erträglich.

Mehr Chic? Zweimal um die Ecke rum liegt die Romilly Street, Richard Corrigan kocht im Lindsay House: klein, intim, schlicht. Das Haus ist unprätentiös, die Küche fantastisch! Aufs Land? Zu viele Adressen, zu wenig Platz hier, deshalb nur ein echter Geheimtipp: Im walisischen Laugharne, wo Dylan Thomas gelebt und gesoffen hat, gibt es das Country House Restaurant The Cors. Reservierung ist zwingend (Tel. 0 19 94-42 72 19). Der Eigentümer offenbart sich in der Küche als Naturtalent. Das walisische Lamm ist grandios, die Weinauswahl gut, die Atmosphäre familiär und dennoch voller Stil. Wer hier am Kamin sitzt und immer noch meint, englisches Essen sei furchtbar, glaubt sicher auch noch an den ewigen Londoner Nebel.

URSULA HEINZELMANN, 37, ist gelernte Sommelière und Gastronomin. Sie lebt in Berlin, liebt goldgelb gereifte Rieslinge, nachtschwarze Kleider und schlaksige Briten.