Die Pflege ist ein Pflegefall

Management hält Einzug in Heime und Sozialdienste. Doch Patienten sind noch keine Kunden, ganzheitliche Betreuung findet nicht statt. Kommt nach dem Pflegenotstand nun der humanitäre?

von HOLGER KLEMM

Einer Seniorin fällt im Pflegeheim die volle Tasse aus der Hand. Die Altenpflegerin streicht ihr übers Haar, sammelt die Scherben auf, bringt eine neue Tasse Bohnenkaffee und setzt sich zu ihr, bis der zahnlose Mund wieder glücklich lächelt. Dieses schöne Klischee stimmt schon lange nicht mehr. Vor zehn Jahren gab es einen Aufschrei: Der Pflegenotstand war ausgebrochen. Alte und Kranke konnten kaum mehr versorgt werden. Alle Versuche, den Mitarbeiter-Engpass zu schließen, schienen fehlzuschlagen. Das Image des Berufsstandes war einfach schlecht.

Die Bezahlung ließ zu wünschen übrig, Aufstiegschancen waren begrenzt. Und das bei einer körperlichen Belastung, die in der Alten- und Krankenpflege gelegentlich der eines Bergmannes nahe kommt. Gründe genug für das Pflegepersonal, den Job hinzuschmeißen und neue berufliche Wege zu gehen. Nach Untersuchungen von Barbara Meifort, Mitarbeiterin des Bundesinstitutes für Berufsbildung, sind die Zahlen alarmierend. In den ersten fünf Jahren nach der Ausbildung wechseln 80 Prozent der Mitarbeiter die Branche.

Die Pflegeversicherung brachte weitere Belastungen. Sie erhöhte den Aufwand an Dokumentation und Abrechnung. Jeder Handgriff – Haarewaschen, Betten beziehen, das Verabreichen der Medikamente – muss separat aufgelistet werden. Das persönliche Gespräch hingegen ist eine Leistung, die sich nicht abrechnen lässt.

Bei diesen Widrigkeiten kam zu Recht die Frage auf, welcher Pflegeeinrichtung man noch guten Gewissens vertrauen kann. Die Debatte der Qualitätssicherung, seit zehn Jahren sorgt sie im sozialen Bereich bereits für Wirbel, schwappte Mitte der 90er auf den Pflegebereich über. Zwangsläufig änderte sich das Berufsbild der Pflege. Neue Stellenbezeichnungen entstehen. Eine davon heißt Diplom-Pflegewirt beziehungsweise -wirtin. So nennen darf sich, wer einen Studiengang Pflegemanagement absolviert hat.

Die Evangelische und die Alice-Salomon-Fachhochschule (EFH/ASFH) in Berlin erweiterten 1994 ihr Studienangebot. Bis dahin galt es nur für Sozialarbeiter und Sozialpädagogen. Jetzt pauken dort Studenten BWL, Gesundheitsökonomie und Management, Recht und Pflegeforschung. Eine Pflege- oder Hebammenausbildung müssen sie abgeschlossen haben und mindestens zwei Jahre Berufserfahrung mitbringen.

Vereinzelt gibt es Sonderregelungen für Bewerber ohne Abitur, doch dann ist eine mindestens vierjährige Praxis Pflicht. Viele der Pflegemanagement-Studenten sind parallel zum Studium weiter berufstätig. In der ASFH hat man darauf reagiert und bietet einen der beiden Studiengänge pro Jahr als Abendstudium an. „Das Studium ist gebündelt“, so Studienkoordinatorin Elke Weisgerber, „zwar etwas verschult, dafür ohne lästige Freistunden.“ Die reguläre Studienzeit beträgt acht Semester.

Neben den Pflegeberufen ändert sich auch der Status der Gepflegten. Aus Patienten und Klienten wurden Kunden. So als wäre es ein Leichtes für sie, aufzustehen, ihr Bett zu nehmen und sich im Haus der Konkurrenz einzuquartieren. Der Etikettenwandel ignoriert bisher die weiterhin bestehende Abhängigkeit der Gepflegten. Kunde sein hieße dagegen unabhängig zu sein. Die neuen Begriffe machen den betriebswirtschaftlichen Trend der Pflege deutlich. Und der fordert Manager. Manager, die sich mit Statistik und Demenz gleichermaßen auskennen. Dem Anspruch stellen sich die Fachhochschulen, indem sie nur gelernten Pflegern und Hebammen das Studium ermöglichen. Wie sieht das in der Praxis aus? Die Verzahnung von Pflegepraxis und BWL ist dringend notwendig, wie Mitarbeiter sozialer Einrichtungen betonen. Wolfram Sichau, Sozialdienstleiter des Unionhilfswerkes in Berlin, schüttelt nur den Kopf über die Berge von Formularen, die Pflege eher behindern als fördern: „Der Verwaltungsaufwand ist riesig geworden.“ Das sei für Einrichtungen in dreifacher Hinsicht eine Belastung. Zum Einen, sagt Sichau, „geht die Zeit am Klienten flöten“. Des Weiteren sind da die hohen Zusatzkosten. Um eine Sozialstation auf ihre Qualität hin untersuchen zu lassen, muss der Träger vierstellige Summen locker machen. Und zum Dritten ist die – wie Sichau es nennt – „Minuteneierei“, die Honorierung von Leistungen nach der Uhr, für Pfleger und Gepflegte eine Belastung. Auch die Grundfrage ist für ihn noch nicht geklärt: Wie soll es möglich sein, für die Produktion entwickelte Qualitätsstandards auf Pflege und Betreuung zu übertragen?

Der Umbruch im Pflegewesen geht weiter. Gesundheitsministerin Andrea Fischer hat angekündigt, weitere gesetzliche Vorgaben zur Qualitätssicherung zu verabschieden. Jede Einrichtung soll eigene Standards erarbeiten. Das soll hierarchieübergreifend geschehen. Darin liegt ihres Erachtens „produktiver Sprengstoff, der die Weiterentwicklung der Einrichtung vorantreiben kann“. Gegenwärtig kommen die schönen Worte einem Wunschtraum gleich. Matthias Dehmel, Pflegemanagement-Student an der ASFH, erlebt eine ganz andere Wirklichkeit. „Die Leitung gibt den Druck an das Personal weiter.“ Somit sind die Gestaltungsspielräume für Mitarbeiter eng. „Was auch immer man unter ganzheitlicher Pflege versteht – sie findet nicht mehr statt.“