„Eine 9,5 wird es nicht geben“

Vor den 100-m-Finals: Gespräch mit DLV-Trainer Winfried Vonstein über Muskelgebirge und die Grenzen des Sprints

Interview MANFRED KRIENER

Winfried Vonstein war 1994 bis 1998 Teamleiter Männersprint. Heute ist er DLV-Bundestrainer für den Sprint-Nachwuchs.

taz: Herr Vonstein, fallen am Sonntag Sprint-Weltrekorde?

Vonstein: Die Athleten werden dicht an die Bestmarke heranlaufen. Ich glaube aber nicht, dass es neue Weltrekorde über die 100 Meter geben wird. Bei den Frauen bestimmt nicht.

Wo liegen die Grenzen des Menschenmöglichen?

9,75 halte ich bei den Männern für eine echte Grenze. Man kann den Weltrekord vielleicht noch im Hundertstelbereich verbessern, aber eine 9,5 wird es bestimmt nicht geben.

Und bei den Frauen?

Der Frauen-Rekord liegt ohnehin in einem absoluten Grenzbereich. Florence Griffith-Joyner ist eine 10,49 gelaufen, einmal dahingestellt, ob sie clean war. Das ist schon fast jenseits der Grenze. Eine hoch talentierte Frau, dazu zähle ich Marion Jones, kann sicher eine 10,75 laufen, aber das ist wirklich das Limit.

Warum sind Sie so sicher?

Als Trainer weiß ich, was der Mensch an Belastung aushält. Das ist nicht beliebig steigerbar. Selbst wenn ich die Muskelmasse beliebig aufblähe, wird ihre Wirkung von der Leitfähigkeit des Zentralnervensystems begrenzt. Die Befehle „laufen“ dann nicht schnell genug. Es geht vor allem um die Kontaktzeiten. Die Weltklasse hat eine kürzere Stützzeit, in der die Füße mit dem Boden Kontakt haben. Die Schnellsten haben Stützzeiten von 85 bis 90 Tausendstel. In diesen paar Tausendsteln muss ich alle Beschleunigungskräfte auf den Körperschwerpunkt übertragen. Dies begrenzt die Leistungsfähigkeit des Nervensystems.

Sind ständige Fabelzeiten nur mit Doping möglich?

Das ist alles Spekulation, weil man es nicht nachweisen kann. Dennoch: Die enorme Häufung an Weltklasseleistungen bei Männern unter 10 und bei Frauen unter 11 Sekunden ist aus meiner Sicht mit normalen Mitteln nicht erreichbar.

Sind Muskelgebirge wie Maurice Green allein mit Training hinzukriegen?

Ich hatte noch nie einen Athleten, der es muskulär so weit geschafft hat. Der Verdacht ist natürlich da. Aber ich kenne Greene nicht und möchte grundsätzlich keinem Athleten etwas vorwerfen. Man kann bei den Muskeln viel machen mit Training und optimierter Ernährung. Aber es nützt nichts, sich nur darauf zu konzentrieren, den Muskel stark zu machen, dann reißen nämlich die Sehnen und Bänder, weil sie das nicht aushalten. Bis sich der Sehnen-Band-Apparat an so eine Muskelmasse anpasst, das dauert Jahre.

Carl Lewis war im Vergleich zu Greene eine Gazelle.

Der war ein ganz anderer Typ. Lewis war der Topmann der letzten 20 Jahre, vielleicht das größte Talent überhaupt. Ich denke, er war sauber, weil er über Jahre Topleistungen brachte, ohne sein Aussehen zu verändern.

Halten sie das aktuelle Kontrollsystem für leistungsfähig?

In Deutschland ja, international nein. Die meisten Verbände haben kein flächendeckendes Kontrollsystem. Ich glaube auch nicht, dass dies das sauberste Olympia ist, das wir je hatten.

Ganz konkret: Wie viele Zehntel bringt Doping?

Manche der früheren DDR-Trainer reden ganz offen. Doping war für sie das Sahnehäubchen obendrauf. Das hat ihren Athleten etwa 15 Hundertstel gebracht. Vielleicht auch 2 Zehntel.

Wie wollen Sie die deutsche Sprintmisere beenden?

Wir haben im Nachwuchs ein gutes Potenzial. In den letzten drei Jahren haben wir bei der Junioren-WM und -EM und bei der Jugend-WM über 4x100 m jeweils eine Medaille geholt. Aber es ist uns nicht gelungen, die Nachwuchssprinter entscheidend weiterzuentwickeln.

Stimmen Technik und Trainingsprogramme?

Wer sprinten will, muss technisch sauber, das heißt aufrecht laufen. Sprinten ist damit auch ein technisches Problem. Die Amerikaner sagen immer, eure Leute haben sprinten nicht gelernt. Wenn heute die jungen Nachwuchsläufer zu uns kommen, dann ist häufig technisch schon zu viel verbaut. Wir haben eine Entwicklung verschlafen. Wir haben lange versucht, mit Krafttraining und Tempoläufen schnell zu sein. Aber wir müssen Schnelligkeit trainieren.

Wie trainiert man das?

Über Speed-Drills, bestimmte Übungen, die die Leistungsfähigkeit des Zentralnervensystems ausreizen, durch kurze, wahnsinnig schnelle und schnell-kräftige Übungen. Aber nicht zu lange. Ich muss erst über 30 Meter schnell sein, dann kann ich das auf 35 ausdehnen, dann auf 40, irgendwann auf 100. Wir haben zu viel Wert auf die Beschleunigung der ersten Meter gelegt. Wir müssen Sprinten lernen.

Nennen Sie mal ein Beispiel.

Ganz simpel sind Tappings im Sitzen, also mit maximaler Frequenz auf den Boden trommeln, das schaffen Sie nicht länger als vier Sekunden als Anfänger. Wir brauchen solch hochfrequente Übungen. Aber auf die Schnelle ist die Misere im Sprint nicht zu beheben, zumal der DLV Probleme hat, langfristig zu planen.