: Sein persönliches Kap Horn
Ach, lebte man doch in Zürich! Der Theaterregisseur Christoph Marthaler setzt an zur allmählichen Eroberung seiner Heimat. „Hotel Angst“ recycelt Elemente früherer Abende mit Hang zum Best-of
von JÜRGEN BERGER
Zuerst gab es einen Anruf. Gegen 1 Uhr nachts wurde der dringende Hinweis gegeben, dass man sich das ansehen müsse. „Stägeli uf, Stägeli ab – juchee“ hieß der Marthaler-Abend in Basel. Der Anrufer hatte natürlich gut daran getan, nachts noch anzurufen. Kunst ist immer. Etwas später brachte Marthaler in Basel „Prohelvetia“ auf die Bühne, und spätestens da wurde klar, dass der Züricher im Baseler Exil dem deutschsprachigen Theater das Laufen lehren würde, indem er einen Stillstand inszeniert.
Das war Ende der 80er-Jahre. Inzwischen steht Marthaler für die ästhetisch wohl wichtigste Theater-Neuorientierung der 90er-Jahre. Das konnte auch den Zürichern nicht verborgen bleiben, also holten sie ihn als Schauspielintendant und sanierten ihm mit der Schiffbauhalle auch gleich ein altes Industriegebäude. Die Halle wird neben dem Stammhaus die künftige neue Spielstätte sein. Hier wurde denn auch Marthalers Neustart am Donnerstagabend mit „Hotel Angst“ eingeläutet. Auch in diesem Fall ist Marthalers Theater bodenständiger, als man denkt. Ein Hotel mit gleichem Namen gibt es, und Angst ist ein in der Schweiz üblicher Familienname.
Die allmähliche Eroberung seiner Heimatstadt läutet Marthaler mit einer Schweiz-Exkursion ein, als knüpfe er an seine Anfangszeit mit abgründigen und liedgeschwängerten Heimatabenden an. Nach der Spielzeit-Eröffnung wird es mit einem für eidgenössische Verhältnisse gewagten Spielplan weitergehen. Falk Richter etwa inszeniert die deutschsprachige Erstaufführung von Jon Fosses „Die Nacht singt ihre Lieder“, und Stefan Pucher krempelt Shakespeares „Sommernachtstraum“ um, während das Züricher Publikum noch mit „Hotel Angst“ beschäftigt sein dürfte.
Denn da gibt es tatsächlich eine gewisse Kluft zwischen dem befreundeten europäischen Ausländer und dem Schweizer Inländer. Marthaler recycelt einerseits Elemente früherer Abende mit Hang zum Best-of. Andererseits geht der Alpen-Melancholiker in den Gesangsteilen aber einen Schritt weiter, verfremdet seine Volkslied-Erkundungen der Schweizer Szene und führt in jene Regionen, wo neben dem Sentimentalen das Grauen lauert. Wer das kennt, achtet darauf, wie Marthaler aus der Zufluchtsstätte „Volkslied“ ein unwirtliches Sentimentalitätsnest macht. Wer das bisher noch nicht gekannt hat – der Züricher also – bekommt eine Einführung in Marthaler und dürfte sich wundern, was seinem Volksliedgut da angetan wird. Denn Marthalers Ensemble singt nicht nur zum Herzerweichen. Das alpenländische Liedgut kehrt immer wieder vom Synthesizer bearbeitet und derart ängstigend zurück, als werde dem Schweizer die eigene Seele als Albtraum um die Ohren geschlagen.
Anna Viebrock hat die Bühne in der neuen Schiffbauhalle zu einem riesigen und dezent verwahrlosten Hotelfoyer gemacht. Der obligatorische Aufzug fehlt, dafür gibt es eine breite Treppe, die für Marthalers ewigen Kellner zur unerfüllbaren Olympianorm wird. André Jung, dessen rechte Hand mit einem kleinen Tablett verwachsen zu sein scheint, stolpert hoch, kippt schier runter, klettert an der Seite herum und umschifft sein persönliches Kap Horn in tragikomischen Variationen. Einmal serviert er den Insassen des Hotels derart verquer das Abendessen, dass man Zeuge eines Servierzehnkampfes wird.
Eigentlich könnte sich das Ganze auch in einem Altersheim oder einer Irrenanstalt abspielen. Die Serviererinnnen sind gleichzeitig Krankenschwestern und Aufseherinnen. Ausflippende alpenländische Slow-Motion-Elegiker werden mit Maggi-Injektionen ruhig gestellt. Ansonsten verrichtet das weibliche Personal der Anstalt Schweiz den Dienst am Mann seltsam schlaksig gebückt. Natürlich sind die Schweizer Senioren bei Marthaler auch Gemeinderäte und verhandeln grummelnd, eifernd und geifernd ihre Schicksalsfrage: EU oder nicht EU. Eine Antwort allerdings ist nicht in Sicht, so dass der Schweizer am Ende immer noch neutral in seinem „Hotel Angst“ tief unten im schattigen Tal sitzt und in jedem Zugereisten einen potentiellen Terroristen sieht.
Am Ende seiner ersten Uraufführung auf Heimatboden hat Marthaler die Züricher zumindest einmal mit sich bekannt gemacht. Die Schweizer Wirtschaftsmetropole kann den heimgekehrten verlorenen Sohn feiern. Wie lange die Euphorie anhält, wird sich zeigen.
Weitere Vorstellungen: 26. – 30. September
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