Kippen, das ist eine Frage der Perspektive

■ Filme zur Gentrifizierung St. Georgs und des Schanzenviertels in der Roten Flora

Eine Geschichte der Herrschaft ließe sich entlang vieler Linien schreiben. Entlang der von Klasse, „Rasse“ oder Gender, genauso aber entlang der des Raums. Herrschaft materialisiert sich auch im Raum fortwährend im Vorgefundenen: in der Heimeligkeit des Vorgartens, der funkyness von Amüsiermöglichkeiten oder der Präsenz von Ordnungskräften.

Doch nichts ist unsichtbarer als der eigene Alltag. Wo und unter welchen Bedingungen jemand lebt, erscheint nach einer Weile so normal wie die Luft zum Atmen. Und doch ist dieses Konkrete der eigenen Umwelt immer schon Resultat vielfältiger Regulierungsmechanismen, die uns mit dem gesellschaftlichen auch einen geographischen Ort zuweisen. Stabil ist der selten, denn auch die gesellschaftliche Ökonomie des Raums ist – wenn auch nicht immer bewusst – umkämpft.

Das zu thematisieren, dafür hat auch die politische Linke lange Zeit gebraucht. Standen in der Hausbesetzerbewegung der 70er Jahre die Kritik von Grundstücksspekulation und das Bedürfnis nach herrschafts-freien Nischen im Vordergrund, schärften erst in den 90er Jahren beispielsweise der Umbau von Berlin-Mitte und Ereignisse wie die Unruhen in Los Angeles oder die Übernahme von New Yorker „Zero Tolerance“-Konzepten durch bundesdeutsche Ordnungspolitiker ein Bewusstsein dafür – und machten es dringlich –, Raum jenseits der eigenen, subjektiv-subkulturellen Bedürfnisse anzugehen.

Zwei Dokumentarfilme, die heute Abend in der Roten Flora im Rahmen einer Diskussionsveranstaltung zu sehen sind, liefern dafür Stoff und Anschauungsmaterial anhand der Veränderungen der Regionen Hauptbahnhof/St. Georg und Schanzenviertel. Kippt das Schanzenviertel!, produziert vom Medienpädagogischen Zentrum und dem neomarxistischen Hamburger Theoriekollektiv gruppe demontage (Postfordistische Guerilla – Vom Mythos nationaler Befreiung, Unrast Verlag), dokumentiert Aktionen aus dem Sommer vergangenen Jahres, die sich gegen die Politik der rassistischen polizeilichen Kontrollen und Vertreibungen aus dem Viertel, das übrigens nie genau eingegrenzt wurde, richteten.

Wie sich das Viertel zwischen den beiden Polen Verslummung und Yuppifizierung bewegt, sicherte sich diese Politik über ein Feindbild ab, das nicht nur in den bürgerlichen Medien eine Weile Höchstkonjunktur hatte, sondern auch von den alternativen Mittelschichten des Viertels und vielen Linken („Dealer verpisst Euch!“) mitgetragen wurde: dem schwarzafrikanischen Dealer, einem Feindbild, das irgendwann alle dunkelhäutigen Menschen unter Pauschalverdacht stellte. Ihn als rassifizierende Konstruktion polizeilicher Statistik und Praxis deutlich zu machen, versuchten symbolische Aktionen wie die Mobilisierung für einen Gesetzentwurf, der ein härteres Durchgreifen gegen „blauäugige Fahrraddiebe“ fordert.

Weil das im Film von Hetzern wie Schill befürchtete „Kippen“ des Schanzenviertels nicht zuletzt Resultat der Drogenpolitik in St. Georg ist, stellt die Kombination des Films mit der essayistischeren Dokumentation Alle müssen raus den notwendigen Zusammenhang her. Darin geht es nicht so sehr um den Widerstand der Innenstadt-Aktivisten, sondern um die Überwachung und schleichende Militarisierung der Hauptbahnhofregion, aufgezeichnet anhand von zum Teil unfreiwillig komischen Interviews mit Sicherheitsbeamten und anderen Agenten der innerstädtischen „Normalisierung“. Ein „Kippen“ dieser Art – in Richtung der dort erfolgreich realisierten Blade Runner-Szenarien – steht in der Schanze noch aus. Aber wer weiß: Vielleicht lässt sich auch dort bald Milchkaffee unter den „befriedeten“ Bedingungen der Gentrifizierung trinken. Genug Medienarbeiter gibt es ja schon. Tobias Nagl

heute, 20 Uhr, Rote Flora