Arbeiter des Ruhms

von JAN FEDDERSEN

Im Vergleich zu dem, was danach kam, war sein Zehnkampf vor vier Jahren in Atlanta ein Kinderspiel. 8.706 Punkte, absolute Weltklasse, hatte er am Ende gesammelt. Das reichte für die Silbermedaille, vom höchsten Platz auf dem Siegerpodium und vom Konkurrenten Dan O’Brian, dem Favoriten schlechthin, trennten ihn noch 118 Zähler.

Trotzdem avancierte er zum Helden. „Dieser junge Mann hat ganz Deutschland verzaubert“, erkannte die Bild am Sonntag, die Bild sah in ihm den „König vom Kohlenpott“. Frank Busemann, ein schlaksiger Mann aus Recklinghausen, war über Nacht zum Darling geworden. Auf so einen hatte die Nation gewartet, gerade auf einen wie ihn, der fast zum „König der Athleten“ geworden wäre. Trotz Michael Schumacher, dem Automaniac der Republik, und Jan Ullrich, gerade Zweiter geworden bei der Tour de France, siegte Busemann im Spätherbst jenes Jahres bei der Wahl zum „Sportler des Jahres“ mit großem Abstand. „Unvorstellbar, das war ’ne Nummer zu hoch für mich!“, sagt er – und alle liebten ihn dafür.

Ein perfekter Sportler des Jahres

Eine perfekte Figur, um die Gunst der Juroren zu gewinnen: die Legende, dass er in Atlanta erst den fünften Zehnkampf seines Lebens bestritt. Ein schlanker Körper, muskulös, wenig bullig. Das ungläubige Staunen in eigener Sache, es so weit gebracht zu haben. Und dann das Finale, nach den 1.500 Metern, als Frank Busemann wie zu Tode erschöpft auf der Tartanbahn zusammensackt und sich von Helfern davontragen lässt.

Überliefert ist seither sein Credo: „Wer nichts spürt, ist tot.“ Sätze wie dieser wirken zu Recht peinlich, weil sie ein soldatisches Bild kultivieren, nach dem nur ein zerschundener Körper Anspruch auf öffentliche Umarmung hat. Aber Frank Busemann durfte so etwas sagen, weil man ihm abkauft, dass er sich bis zur Schmerzgrenze treibt, dass er zäh arbeitet, selbst mit lädiertem Knöchel weiterzumachen. Aber das allein erklärt nicht seine Popularität. Frank Busemann ist einer, der eher an einen Freizeitsportler erinnert, nicht an einen hochgezüchteten Star, der immer alles richtig macht, ein Heer an Betreuern hinter sich weiß und deshalb keinen Karriereknick erleidet. In dem deutschen Zehnkämpfer aber kann sich das Publikum wiedererkennen, gerade weil er fehlbar scheint.

Schon rein äußerlich hat der bescheidene junge Mann aus Recklinghausen nichts von einem Retortenprodukt, nichts an ihm signalisiert, dass da aus einem begabten Körper eine Hochleistungsmaschine gezüchtet wird. Dazu trägt wesentlich sein familiäres Umfeld bei. Sein Vater ist sein Trainer, Franz-Josef Busemann, einst selbst Zehnkämpfer; seine Mutter Sybille war früher Schwimmerin; Bruder Lars hat es bis in einen der höchsten Leistungskader im Stabhochsprung gebracht. Allesamt demonstrieren sie die Gediegenheit der nicht so bürgerlichen Verhältnisse. Keine Karosse mit Stern, dafür ein alter Fiat. Rot geklinkertes Reihenhaus, Wohnzimmerschrank in Eichenfurnier, Couchgarnitur. Nichts in dieser Familie ist exzentrisch oder sonderbar, alles ist so wie bei allen anderen auch – nur dass der eine Spross ein so guter Leichtathlet ist wie nur wenige andere.

Frank Busemann soll schon als Vierjähriger fröhlich um die Aschenbahn gelaufen sein, später hat sein Vater öfters versucht, seine Trainingswut zu drosseln. Doch der angehende Leichtathlet machte so sehr weiter, dass sein Vater eines Tages, so wird kolportiert, genauer gesagt nur zwei Winter vor den Sommerspielen von Atlanta, das Training heimlich auf die Erfordernisse des Zehnkampfes umstellte. Denn eigentlich war Frank Busemann auf den Hürdensprint getrimmt, nicht auf die Tortur, zehn Disziplinen gleich mittelmäßig bis gut zu beherrschen, damit niemand nach zwei Tagen im Durchschnitt besser ist.

Den Sohn vom Hürdensprint auf den Zehnkampf umzustellen, war eine weise Entscheidung, war doch schon die inländische Konkurrenz ihm um etliche Zehntelsekunden überlegen.

Die Silbermedaille in Atlanta war der Lohn – und der Fluch zugleich. Mittlerweile verbringt der inzwischen 25-Jährige beim Physiotherapeuten und bei Sportärzten mehr Zeit als beim Disziplintraining. Außer einer Bronzemedaille bei den Weltmeisterschaften 1997 in Athen hat Frank Busemann keine Auszeichnungen mehr sammeln können. Ständig verletzt, mal an der Hüfte, die mehr als zwickte; dann riss ein ganzes Bündel Muskelfasern – sein Körper ist lädiert wie der eines Kohlenarbeiters kurz vor der Rente.

Aber er schindet sich, noch ist er nicht zurückgetreten, um sich ganz seinem Job als Sparkassenangestellter zu widmen. Noch wohnt er bei seinen Eltern, wo er das Umfeld hat, um sich in Ruhe doch noch eine weitere Olympiamedaille zu erkämpfen. Noch hat er die Uniprüfungen nach hinten geschoben. Frank Busemann weiß womöglich selbst nicht, ob er mehr sein kann als ein sportliches One-Hit-Wonder. Bei der Olympiaqualifikation im Sommer hat er passen müssen, verletzungsbedingt. Aber der Leichtathletikverband rechnete ihm an, beim Sportfest im österreichischen Götzis ein olympiataugliches Resultat erzielt zu haben, unübertroffen von seinen deutschen Rivalen.

So verkörpert Frank Busemann in Sydney von morgen nacht an wieder die deutschen Hoffnungen. Abermals soll er zum Helden mutieren. Zu einem, der sich quält, gerade weil er seit vier Jahren immer fürchten muss, nach zwei Übungen, wie bei der Weltmeisterschaft voriges Jahr in Sevilla, von seinem Körper sabotiert zu werden. Aber diese Ungewissheit gehört zum Zehnkampf wie das falsche Lächeln zum Eiskunstlauf. Nirgendwo anders als bei dieser Disziplin kann diese Spannung wachsen: Wer schafft es, alle zehn Übungen unbeschadet zu überstehen? Wer hat seine Nerven im Griff, wer kann seine Blessuren ignorieren, wer wächst bei welcher Übung über sich hinaus? Männer wie der große Favorit Tomas Dvorak aus Tschechien, die gesund und munter die zwei Tage überstehen, als sei das alles nur ein Spaziergang, genießen vielleicht Respekt – aber man zittert und jubelt nicht mit ihnen. So gesehen, ist es für Frank Busemann günstig, dass er ein ewig Verletzter ist. Wenn so einer doch gewinnt, hat er alles gewonnen, nicht nur eine Medaille – sondern auch die Herzen.

In den Achtzigerjahren gab es einen Zehnkämpfer, der das Gegenteil von dem war, was Frank Busemann verkörpert: Jürgen Hingsen. Von Statur her ein Musterathlet, aufrecht und muskulös. Ein Rheinländer, schlagfertig, freundlich, immer gut drauf, ein früher Typ der Funideologie – die perfekte Besetzung für eine Singleshow namens „Herzblatt“. Er hatte nur einen Fehler: In den entscheidenden Momenten versagten seine Nerven. 1988 scheiterte Hingsen schon beim 100-Meter-Lauf, weil er nach dreimaligem Frühstart disqualifiziert wurde. Ein Maulheld also, der obendrein immer jammerte, wenn es mal nicht so lief. Dann lag es am schwülen Wetter, am Lärm der Zuschauer oder oder oder.

Nein, so einer konnte nicht an den Mythos von 1964 anknüpfen, als Willi Holdorf bei den Sommerspielen in Tokio bei strömendem Regen und erschöpft zum Schluss auch den 1.500-Meter-Lauf hinter sich gebracht – und Gold erkämpft hatte.

Erst ein pickeliger, etwas linkischer Junge aus dem Ruhrpott, der nicht hadert oder die Schuld bei anderen sucht, löste ähnliche Emotionen aus wie damals Willi Holdorf. Frank Busemann, von dem sein Vater stolz behauptet, er habe „Beine wie ein Ochse“, aber „Arme wie die Krampfadern eines Spatzes“, hat bislang nicht preisgegeben, wie er sich wenige Stunden vor seinem Auftritt in Sydney fühlt.

Angst vor hohen Erwartungen

Bloß nicht zu viele Worte, nicht zu hohe Erwartungen. Er räumt inzwischen ein, dass es auch die vielen Promotion- und Ehrentermine nach seiner Silbermedaille waren, die seiner Gesundheit und der familiären Ruhe mehr geschadet haben als viele Einheiten des ungeliebten Speerwurftrainings hintereinander. Immer nur den lieben Jungen aus dem Ruhrpott spielen müssen, nur noch selten mit Bruder und Eltern am Wohnzimmertisch sitzen können und Doppelkopf spielen, strengt ungleich mehr an als hartes Training.

Die Unschuld, mit der der Recklinghäuser vor vier Jahren die Etablierten in der Zehnkampfszene irritierte und die Zuschauer für sich gewann, ist dahin. Jetzt weiß er, dass, sollte er wieder eine Medaille gewinnen, bei der Wiederankunft zu Hause nicht nur die halbe Wohnsiedlung ihm applaudieren würde. Dann aber könnte er nicht mehr jungenhaft-unbeholfen rufen: „Kommt hier Michael Jackson?“

Frank Busemann könnte wohl nicht wieder Rührung erzeugen, wenn er einen Satz sagt wie: „Wenn du ganz oben stehst, dann heulst du ohne Rücksicht auf Verluste. Bei Silber kam schon ein bisschen.“ Dieses Jahr soll es also Gold werden, sonst könnten die Tränen von Atlanta nicht übertroffen werden. Und sonst wäre es mit den Sponsorenverträgen vorbei, den Engagements in Einkaufszentren, den Autogrammstunden. Annehmlichkeiten in der Welt der Busemanns, an die man sich doch gewöhnt hatte.

Nichts aber wäre schlimmer, als würde Frank Busemann verletzungsfrei die zwei Tage von Sydney überstehen – und unter ferner liefen landen. Das wäre keine Show, sondern nur eine athletische Leistung.