Das Ich im Niemandsland

Das Äußerste geben, ohne sich im Exzess zu verschleißen: Mit dem Gastspiel der Choreografin Charlotta Öfverholm und ihrer Kompagnie „Jus de la vie“ endeten die Tanztage im Pfefferberg

von JANA SITTNICK

Zum Schluss kamen die Schweden und mischten den Pfefferberg noch einmal auf: Charlotta Öfverholm und ihre Kompagnie „Jus de la vie“ aus Stockholm tanzten mit einer herrlichen Kraft und Entschiedenheit. Die Grenzen ihrer physischen Möglichkeiten immer wieder abtastend und verschiebend, zeigten sie, wie sehr Bewegung sich selbst darstellen und zugleich eine Geschichte erzählen kann.

In drei unterschiedlichen Choreografien, einem Solo, einem Duo und einem Gruppenstück, übertrugen die Tänzer mit erstaunlichem Körpereinsatz ein Erzählmaterial, das die fundamentalen Dinge des Lebens wie Liebe, Einsamkeit und Tod umschließt.

Dabei ist es vor allem Charlotta Öfverholm, die konsequent nach der maximalen Ausdrucksmöglichkeit sucht. Jede ihrer Bewegungen, denen man das verinnerlichte Handwerk des Modern Dance abliest, verrät die Lust, an das Äußerste zu gehen, ohne sich im Exzess zu verschleißen. In dem Solo „Flexible while frozen“, choreografiert von dem New Yorker Séan Curren, tanzte sie nach Musik von Dvorák mit einer verfremdeten Harlekinsmaske auf dem Kopf eine traurige, lustige, schöne und hässliche Figur.

Nach sieben Minuten war das Stück vorbei, sie nahm die Maske vom Kopf und ließ den Applaus über sich hereinbrechen. Öfverholm, die sich am Lee Strasberg Theatre in Los Angeles ausbilden ließ und in New York mit Bill T. Jones und der Arnie Zane Compagnie arbeitete, ist zweifellos der künstlerische Pol ihrer Truppe „Jus de la vie“.

Mit dem schwedischen Gastspiel endeten am Dienstagabend die Tanztage im Pfefferberg. Das Festival, das in diesem Herbst – dank Barbara Friedrich, dem Pfefferwerk-Verein und städtischen Fördermitteln – zum neunten Mal stattfinden konnte, zeigte drei Wochen lang die unterschiedlichsten Positionen zeitgenössischen Tanzes: Von klassischen Balletttechniken, die fasziniert-kritisch hinterfragt wurden, über irritierende Performance-Sprachen bis zum abstrakten Bewegungstheater. Marguerite Donlon, die bis vor kurzem Solistin an der Deutschen Oper war und mit bedeutenden Choreografen wie Béjart, Cranko, Forsythe und Meg Stuart arbeitete, zeigte ein Gruppenstück, die Tänzerin Sonja Romeis, die mit ihrem „Sonja Romeis Tanztheater“ seit mehr als zehn Jahren in Berlins freier Tanzszene dabei ist, würdigte die amerikanische Performance-Legende Rachel Rosenthal. Auch Jonna Huttunen partizipierte an den Tanztagen. Die in Berlin lebende Finnin präsentierte in ihrer „Homebase“ Pfefferberg, der viel und gern Huttunen zeigt, „Fake 1“. Huttunen, die fragt, ob man jemals etwas anderes als sein Selbstporträt zustande brächte, thematisiert den Menschen als Homo erratus: Irrfahrten durchs Niemandsland, das Ich im Anderen, das ferne Ich, das abwesende Ich, der Klon. Mit ihrem neuen Stück bewegt sich die junge Choregrafin auf einem Grad formaler Abstraktion, der für Momente die Erfahrung von etwas Reinem, Authentischem, vielleicht der viel beschworenen tänzerischen Substanz vermittelte. Doch durch die Minimalisierung aller zusätzlichen ästhetischen Reize, dem Verzicht auf Handlung und Requisiten, das nüchterne Licht, die schwarzen Hosen der Tänzer, mangelte es dem Stück in anderen Momenten an Gefälligkeit: Es vermittelte sich nicht mehr.

Heini Nukari, die bei ihrer Landsmännin Huttunen tanzte, gelang die Gratwanderung zwischen Kommunikation und Abstraktion glücklicher. In ihrer Arbeit mit Anna Jankowska, dem Duo „Hahmomania“, belebte sie ein irreales Doppelwesen, das sich von den Träumen anderer nährt. Mit einander verschlingenden Bewegungen, die übergangslos in stakkatohaften Marionnettengang wechselten, lösten sich die kahlköpfigen, nur mit einem Fischernetz bekleideten Figuren von ihren Körpern, um eine unsichtbare Welt hinter den Formen sichtbar werden zu lassen. Für Augenblicke gelingt es ihnen. Dann war das Märchen die Wahrheit im Pfefferberg.