Es ist ein Mädchen! Ist es ein Mädchen?

■ Träger des Goldenen Löwen von Venedig: Jafar Panahi präsentiert kommenden Samstag seinen dritten Spielfilm The Circle auf dem Filmfest Hamburg

The Circle ist ein Film, der schwindeln macht. Immer wieder erzeugt er den Eindruck, im Laufschritt durch die Großstadt gezwungen zu werden, ohne die Zeit, sich mit der Topografie genauer vertraut zu machen. Wenige Innenräume sind zu sehen, ein Krankenhaus, ein mittlerer Betrieb, ein Busterminal, ein weiteres Krankenhaus, das Entrée einer Pension, eine Gefängniszelle. Doch auch dort ist ein Überblick verwehrt. Jafar Panahis Interesse gilt seinen Protagonistinnen, acht Frauen, die mit dem geltenden iranischem Gesetz in Konflikt geraten sind. Und er lässt sie durch die respektvolle Kamera von Bahram Badakhshani nicht aus den Augen, selten ist mehr zu sehen als eine halbnahe Einstellung zulässt, und selten wohl dürfte die Sehnsucht nach einer einzigen beruhigenden Totalen im Kino größer gewesen sein.

Da ist Solmaz, nie zu sehen, nur bemerkbar durch die Schreie während der Geburt ihrer Tochter, die ein Junge hätte sein sollen, eine entsetzte Familienangehörige stürmt auf die Strasse, den männlichen Teil der Verwandschaft zu informieren. Schon verliert sich auch deren Spur, zu sehen sind drei Frauen vor einer Telefonzelle, von denen erst nach und nach zu erfahren ist, dass sie aus dem Gefängnis abgehauen sind, und kaum, wofür sie dort saßen. Polizisten und Militärs auf den Straßen sind eine ständige Bedrohung, Maedeh wird gleich darauf verhaftet, den beiden weiter Flüchtigen hechtet die Kamera hinterher, nichts wird erklärt, nicht die Gesichtsverletzung von Nargess, nicht, was Arezou hinter verschlossener Tür mit einem Mann tat, bis sie mit ein wenig Geld, gerade genug für eine Busfahrkarte in den Norden des Irans, zu der wartenden Freundin zurückkehrt. Von jeder der Frauen wird nur ein kleiner Ausschnitt ihres Lebens ansichtig, schon kommt die nächste ins Bild: Pari auf der Suche nach einem Ort zur Abtreibung, Nayereh, die ihre Tochter aussetzen muss, weil sie sie nicht mehr versorgen kann oder die Prostituierte Mojgan.

Doch auch wenn sie Verfolgte sind: Stets wissen sie mehr als die Zuschauenden, bewegen sich immer schlau in ihrer von der Kamera verdeckten Umgebung, ihre Intelligenz ist die eines nie hinlänglich berechenbaren Alltags. Den Tschador, den sie möglichst nicht tragen, wissen sie auch zu ihrem Schutz einzusetzen: vor den Blicken der Polizisten. Dass sie sich meist gegenseitig unterstützen, wird gerade dann deutlich, wenn eine von ihnen die Solidarität verweigert.

Nur am Schluss, wenn sich der Kreis schließt, weiß Panahi plötzlich mehr als seine Figuren. Sie, deren individuelle Größe angesichts der Bedrohungen er noch an der kleinsten Geste abzulesen wusste, sind plötzlich alle Opfer und darum alle gleich. Vorher ist nachher ist vorher. Das beklemmt, und man hat Mühe, sich zu erinnern, dass es gerade die Widerstände der Frauen waren, die der über sie ausgeübten Herrschaft hin und wieder etwas abtrotzen konnten.

Christiane Müller-Lobeck

Sa, 19.45 Uhr, Zeise, in Anwesenheit des Regisseurs + So, 16.30 Uhr, Metropolis